Stillstand und Wort

Wenn man egal durch welches Verfahren, welche Anwendung oder Methode eine totale Ruhephase, völlige Entspannung, sozusagen einen absoluten Stillstand mich sich erreicht hat, bleiben dennoch immer zwei Bereiche, die ungelöst oder zumindest noch einfach als vorhanden erscheinen. Der eine Bereich ist der Raum. Auch in tiefster Meditation wird man bemerken, dass selbst wenn der eigene Körper nicht mehr empfunden werden kann, wenn er keinen Raum mehr einzunehmen scheint, dennoch ein Raumgefühl, eine Raumanwesendheit besteht. Mit diese den-Raum-als-solchen-Erfahrung hatte ja Kant dazu geführt, den Raum als eine Kategorie Apriori erfassen zu müssen, als etwas

unbedingt Primäres und weiter nicht Hintergehbares. Allerdings spielte bei ihm die Zeit die zweite Kategorie Apriori, die jedoch bei der von mir gerade genannten Stillstandserfahrung keine solche Rolle spielt. In der völligen Entspannung, Ruhe- und regungslosen meditativen Erfahrung wird ja gerade die Abwesenheit von Zeit als das Positive empfunden.  

Aber natürlich ist etwas Zweites da, nämlich die Erfahrung, dass es im Stillstand absolut – selbst bei äußerer totaler Lautlosigkeit – nicht wirklich still ist. Der Wissenschaftsjournalist S. Schramm nannte dennoch diese Phänomen zu Recht den „Klang des Nichts“.[1] Dieser Autor berichtete über Experimente eines Akustik-Technikers, in dessen absolut schalldichten und auch schallschluckenden Raum man schon nach kurzer Zeit alle möglichen Töne und Laute wahrnimmt oder zu hören vermeint ohne dass wirklich etwas geschieht. Muss man vollkommene Stille lange aushalten, fängt sie – wie die Leute manchmal sagen – zu dröhnen an. Und E. Munchs bekanntes Bild ‚Der Schrei‘(siehe Abb. nebenan) zeigt ebenso exakt diese Wirkung. Ganz sichtlich ist hier jemand seelisch zu tiefst getroffen, und er hält sich die Ohren zu, weil der innere Schrei seines Entsetzens zu groß und zu laut ist.

Der ‚Laut‘, der ‚Ton‘, das – wie Lacan es psychoanalytisch ausdrückt – innere ‚universale Gemurmel‘, bleibt neben dem Raum als Zweites bestehen und kann nicht hintergangen werden. Das innere ‚universale Gemurmel‘ ist nicht nur der Rest der Geräusche und Stimmen vom Tag, also all der ‚Laute‘, die nicht im Alltag so umgesetzt werden konnten, dass Ausgleich, Befriedigung und positive ‚Objektkonstanz‘ erreicht wurde.[2] Es sind auch Sprachlaute, die noch aus frühester Kindheit stammen, ein Raunen und Klingen, das noch in Worte übersetzt werden muss. Denn das meiste ist übersetzbar und der ‚symbolischen Ordnung‘, dem bereits Primärsprachlichen zuzurechnen. Nur das ursprünglichste „Wimmern und seines Nachlassenns beim Kleinkind“ rechnet Lacan dem Realen zu,[3] dem psychisch Realen, das die Grenze des psychisch Erreichbaren ist, etwas, das wie die nüchterne Zahl „immer am gleichen Platz“ vorkommt.

Es handelt sich also um den in sich selbst gekrümmten Laut des Realen, der wie die Stimme eines Fremden, Toten oder des ganz Anderen klingen kann, obwohl man ihn selbst von sich gibt. Die sich krümmende Topologie ist notwendig um das zu verstehen, was sich im Unbewussten tummelt, die Wortbedeutungen, die sprachlichen Kräfte, die eine Lächerlichkeit zum höchsten Ruhm verdrehen oder eine wirkliche Großtat mundtot herunterschrauben können. Denn es ist etwas, das in uns nicht nur ‚Laut, sondern ein Es Spricht ist, ‚tonisch‘, rhythmisch, monadisch, aber auch mit schlichten Syllaben. Ich will damit nur sagen, dass man Kant neu verstehen muss. Die alten apriorischen Kategorien sind nicht ganz ungültig, für den Raum treffen sie zu, aber für die Zeit muss man das Es Spricht (im Unbewussten und auch in den Versprechern und Fehlleistungen der Leute und vielleicht auch irgendwo in der Natur) einsetzen.

Ist es nicht tatsächlich oft so, dass die guten und richtigen Worte die Zeit ganz schnell vergehen lassen, die schlechten und bösen hängen einem dagegen noch jahrelang an. Alles, was in diesem Es Spricht zum Ausdruck kommt, bestimmt also die Zeit, die hier sozusagen zweitrangig ist. Doch im Stillstand geht sie ganz verloren, denn dann wird das Wahre und Wirkliche gesagt. In meinem meditativen, psychotherapeutischen Verfahren der Analytischen Psychokatharsis kommt es deswegen zu Pass- oder Identitätsworten, die genau dies Wahre und Wirkliche vermitteln. Nur der Stillstand führt zum eigentlichen Wort, und das passiert in dem oben geschilderten Raum, den ich wegen seiner Formlosigkeit parallel zum Es Spricht auch ein Es Strahlt nenne. Kant hat dies auch mit seiner Bemerkung zum Sternenhimmel verdeutlicht, dessen Es Strahlt über ihm er dem ‚moralischen Gesetz in ihm (als einem Es Spricht) zuordnet. Apriori.

 

 



[1]  Schramm, S., Der Klang des Nichts, SZ vom 7. 11. 2016, S. R7

[2] Unter positiver ‚Objektkonstanz‘ versteht der Psychoanalytiker eine Art inneren Gefestigtseins, also eines seelischen Zustands, der nicht mehr ständig zwischen Hoch und Tief, Selbstzweifeln und Erstarrung schwankt, sondern ausgeglichen ist.

[3] Lacan, J., Seminar II, Walter (1980) S. 327