Eine Wissenschaft v o m Subjekt

Die herkömmlichen Wissenschaften stützen sich auf ein Objekt, Dadurch glauben sie besonders objektiv zu sein. So basieren die Naturwissenschaften auf materiellen und energetischen Grundlagen, während die Geisteswissenschaften sich auf eine von vornherein als bedeutend festgelegte Einheit beziehen ( z. B. auf so etwas wie „Transzendenz"). Beide Wissenschaften versuchen also so vorzugehen, dass sie behaupten können, sie hätten das Subjekt der Wissenschaft, den Forscher, den persönlichen Menschen, aus dem Spiel gelassen. Wir wissen heute natürlich, dass dies nur zum Teil stimmt. Wie der Naturwissenschaftler sein Experiment auswählt, ist oft von sehr persönlichen Gegebenheiten beeinflusst und manchmal muss er sogar ein bisschen grob und rüde nachhelfen, um etwas „objektiv" beweisen zu können. So muss er z. B. in der Biologie, der Wissenschaft vom Leben, genau dieses Leben oft erst töten, zerschneiden, um es im Mikroskop exakt betrachten zu können. Andererseits bemerkt der Physiker beispielsweise selbst, dass er an „objektive" Grenzen gerät: wenn z. B. eine Einheit der Physik - etwa ein Elektron - an zwei Orten zugleich sein kann, muss etwas Subjektbezogenes im Spiel sein.

 

Nicht anders ergeht es den Geisteswissenschaftlern. Sie versuchen zwar mit geradezu mathematischer Logik einen Begriff so herauszuarbeiten, dass er „objektiv" erscheint, in Wirklichkeit haben sie ihn aber schon von vornherein als bedeutend festgelegt. So hängt das Kantsche „Ding an sich" beispielsweise sehr an den Wörtchen „an sich", als ob dies dem Ding, der Chose also, besondere Wertigkeit und gar wahre Wirklichkeit oder wirkliche Wahrheit angedeihen lassen würde. Die Psychoanalyse ist daher mit ihrem Versuch, den Menschen einfach selbst sein Innerstes hinaus äußern zu lassen (durch die „freie Assoziation") in eine ganz neue Richtung gegangen, die man am besten als eine Wissenschaft  v o m  Subjekt bezeichnen kann. Man lässt jemanden alles herausplappern, was diesem so spontan, ja sogar auch in seinen Träumen einfällt, und sortiert dieses „Material" dann nach systematischen Gegebenheiten. Man ordnet das „Material" dieser Äußerungen dem Ich des Betreffenden, seinem Überich, Idealich, Ichideal oder einem Trieb zu, wodurch der Betreffende tatsächlich in den Besitz einer Wahrheit / Wirklichkeit gerät. Der Begriff Trieb spielt dabei eine große Rolle, doch auch er ist kein Objekt.

Der Trieb hatte bei S. Freud, dem Begründer der Psychoanalyse, noch reichlich biologische Bedeutung. Dennoch leitet Freud ihn nicht direkt vom tierischen Instinkt ab. Manchmal nennte Freud die Triebe sogar „mythische Wesen, großartig in ihrer Unbestimmtheit", er wechselt also vom Feld des Biologischen ganz auf das des Literarisch - Mythischen. Erst J. Lacan hat hier Klarheit geschaffen. Er kam von der Sprachwissenschaft her und sagte, die Triebe sind eigentlich Signifikanten, Bedeutungsmacher, Bestimmer ureigenster Art. Man braucht dazu keine Natur- und Geisteswissenschaften, im psychoanalytischen Akt geschieht es von sich aus. Der Akt besteht aus dem „freien Assoziieren" und der „übertragungsbezogenen Deutung" (man „überträgt" auf den Psychoanalytiker Bedeutungen, die dieser dann nach Maßgabe seiner  Wissenschaft - und das heißt insbesondere der Bezogenheit dieser Bedeutungen auf ihn selber - interpretiert).  Triebe sind Kraftprinzipien, immer schon da und immerfort wirksam, und man muss ihnen eben einen Namen geben.

S. Freud gab ihnen die Namen Eros-Lebens-Trieb und Todestrieb. Man reduziert in einer Wissenschaft immer alle gefundenen Parameter auf möglichst wenige Grundelemente, meistens zwei oder drei. J. Lacan hat diese Konzeption etwas umformuliert und einen Wahrnehmungstrieb (Schautrieb) dem Entäußerungstrieb (Sprechtrieb) gegenübergestellt. Ich habe diese Trieb- oder Kraftprinzipien vereinfacht ein „Strahlt" und ein „Spricht" genannt, weil es so noch leichter verständlich ist, die universale Geltung dieser Wissenschaft  v o m  Subjekt  überall nachzuweisen. So ist es natürlich für die Psychoanalyse kein Problem, in ihrer Arbeit mit diesem leicht veränderten Konzept vorzugehen. Das „Strahlt" steht meist mehr auf der Seite des Weiblich-Mütterlichen, das „Spricht" mehr auf der des Männlich-Väterlichen. In tiefere Details gehe ich an anderer Stelle.

Aber kehren wir z. B. wieder zur Physik zurück. Dass es in oder inmitten der Elementarteilchen „Strahlt" ist sicher kein Zweifel. Aber „Spricht" es auch darin? Ja doch, gerade oben habe ich ja das Beispiel von den Elektronen gebracht, die man bei sogenannten „Durchtunnelungsexperimenten" an zwei Orten gleichzeitig messen kann. Das ist eben nicht mehr durch einfache materielle, geometrische Linien (Strahlt) darstellbar, hier kommt eine völlig andere Dimension herein. Es ist, als ob jemand dazwischenfunken würde. Ein Subjekt, kein Objekt mehr. Das Gleiche können wir auch in der Astronomie erfahren. Je weiter wir in den Weltraum hinausschauen, desto mehr sehen wir gar nicht mehr das, was dort wirklich und wahr ist, sondern etwas, das durch Gravitation (z. B. Gravitationslinsen) und anderes (dunkle Materie und Energie) so verändert wird, dass mehr oder weniger ein Irgendetwas sehen, dem wir alle nur denkbaren Bezeichnungen zuordnen könnten.

In Biologie, Theologie, Informatik, ja auch in der Mathematik lassen sich derartige Argumente nutzen. Es gibt bis heute keine wirklich empirische Theorie der ersten ganzen Zahlen. Und es wird sie auch nicht geben. Alle erdenklichen Versuche, z. B. durch eine Ordnung der Primzahlen das Zahlsystem auf eine fassbarere Ordnung zu reduzieren, sind gescheitert. Wir zählen zwar, aber dies nistb ein künstliches Modell, dass im entscheidenden Moment versagt. „Ich habe drei Brüder, Paul, Ernst und mich", sagte einmal ein Junge und recht hatte er. Denn er hat sich zuerst einmal als Subjekt mitgezählt und dann ab es ja noch den Brüderbegriff. Also waren es drei. Shackleton, der berühmte Antarktisforscher (Endurance-Expedition) soll nach Rückkehr von einer äußerst strapaziösen Tour zu seinem Schiff sich entsetzt gefragt haben: „Wo ist der vierte Mann?" Sie waren jedoch nur zu dritt gewesen, er selber war einer der dem Erschöpfungstode nahen Tourteilnehmer gewesen, aber dann gab es ihn auch noch als den Planer, den Verantwortlichen, den Über-Teilnehmer, den er dauernd auf dem langen Weg beobachtet hatte. Einer von diesen beiden war plötzlich nicht mehr da, klar, es waren ja alle drei gerettet.

Hier geht es nicht um Hirngespinste, hier geht es genau darum, eine Mathematik auf der Basis des wirklichen und wahren Menschen zu begründen, und nicht auf der abzählbarer Konsumgüter, mit der das Abzählen irgendwie begonnen hat. Das Zählen als solches, also auf der Ebene, auf dem Feld, wo „Es Zählt". „Noch bevor die eigentlichen Humanbeziehungen entstehen, sind gewisse Verhältnisse schon determiniert . . Noch vor jeder Erfahrung, vor aller individuellen Deduktion und noch bevor überhaupt kollektive Erfahrungen . . . sich niederschlagen, gibt es etwas, das dieses Feld organisiert und die ersten Kraftlinien in es einschreibt . . die Funktion einer ersten Klassifizierung. Wichtig ist für uns, dass wir hier die Ebene erkennen, auf der es - noch vor jeder Formierung eines Subjekts, das denkt - bereits zählt, auf der gezählt wird. Wichtig ist, dass in diesem Gezählten ein Zählendes schon da ist" (Lacan, J., Die vier Grundbegriffe der Psychoanalyse, Walter (1980) S. 26).

Wo Es-Zählt, Er-Zählt, beginnt also die Wissenschaft  v o m  Subjekt. In der Chiffre des ENS-CIS-NOM tragen die Buchstaben Zahlenwerte, denn es kommt ja darauf an ob mit dem Buchstaben 1 oder 4 angefangen wird zu lesen. Oder 7 oder 8. Man könnte sofort ein mathematisches System darüber aufbauen, aber gerade das tun wir hier nicht. Denn jeder, der mit diesem Formel-Wort übt, soll seine Mathematik selber finden, die dennoch exakt definiert ist, denn es gibt nur sechs oder sieben Bedeutungen in diesem Formel-Wort, die für alle gleich sind. Das heißt, gleich sind sie vor allem auf der Ebene wo Es-Zählt, also wo selbst alle sechs oder sieben Bedeutungen immer noch nicht klar genug sind, um in einem Hintereinander, in einer Abzählbarkeit der Bedeutungen, eine Lösung zu bringen. Die Lösung also kann nur jeder für sich selber finden, auch wenn er dann natürlich darüber eine für viele geltende Mathematik etablieren kann. Denn man kann ja auch andere Formel-Worte nehmen, sagen wir einmal insgesamt fünf (dies ist eine rein erfahrungsmäßige Tatsache, dass das praktische Üben mit etwa fünf derartiger Formel-Worte am besten gelingt). Vergleicht man dann die darin enthaltene Arithmetik kommt man vielleicht auf ganz interessante mathematisch zu nennende Aspekte. Ich habe dies noch nicht versucht, andere könnten es ja einmal probieren. Ich selbst werde an anderer Stelle zur Mathematik nochmals Stellung nehmen. Hier ist für mich nur wichtig, dass es das Subjekt ist, von dem aus Es-Zählt (Er-Zählt wie in der Psychoanalyse).

Damit bin ich auch bei dem Unterschied, den die Wissenschaft des E_N_S_C_I _S_N_O_M (ich schreibe es einmal so) von der klassischen Psychoanalyse trennt. Während in der herkömmlichen Analyse der Psychoanalytiker und sein Patient alles zusammenzählen und dann durchrechnen (durcharbeiten nennt man es dort), verlegt die Wissenschaft des E_N_S_C_I_S_N_O_M alles in das Formel-Wort und in die Übung damit selbst hinein (d. h. das Formel-Wort wird zwischen dem „Strahlt" und „Spricht" als Elementarerfahrung - psychoanalytisch: Primärprozesshaftes - aufgespannt (besser nachzulesen in der Broschüre „Die körperlich kranke Seele"). Somit muss kein physischer Analytiker mehr dabei sitzen. Er wirkt im Hintergrund der Erfahrungen mit, die der Übende macht. Vielen Analytikern kommt dies sehr spanisch vor.

Aber die Sache ist gerade von der mathematischen und natürlich auch von der linguistischen her gut zu verstehen. Auch die Mathematik benötigt anfänglich einen Bedeutungsmacher, einen Bestimmer, ein Axiom z. B. oder einen Algorithmus, Signifikanten also. Dabei ist der Algorithmus des ENS-CIS-NOM sogar noch kompakter und elementarer als die in der Mathematik üblichen. Denn er ist von vornherein „akustisches Bild", „linguistischer Kristall", alles Namen, die J. Lacan eingeführt hat, um eine möglichst präzise, konkret-kompakte Bezeichnung für das Unbewusste zu haben. Algorithmischer könnte man es gar nicht ausdrücken. In der Kreisschreibung des ENSCISNOM wird das Bildhafte (Kristalline) und gleichzeitig Akustische (Linguistische) besonders deutlich. Man muss es jetzt nur noch verinnerlichen und alles ist fertig. Ich verweise nunmehr nochmals auf die vorhin genannte Broschüre, in der Praxis und Theorie ausführlicher erklärt sind.