Digitale Körper

In der ZEIT vom 2. 5. 2013 erschien in einer neuen Serie gleichlautend mit dem obigen Titel ein Artikel über die neue Datenbrille von Google. Während man geradeaus blickt erscheint im Brillenrahmen rechts oben ein winziger Monitor, auf dem zu lesen ist, welcher Dom dies nun gerade ist, vor dem man steht oder wie das Tier heißt, auf das man gerade blickt.  Auch andere Internetinformationen und Interpretationen können auf diesem kleinen Bildschirm angezeigt werden, wenn man sie per Sprachbefehl aufruft. Transhumanismus heißt die philosophische Strömung, die sich für derartige Neuigkeiten interessiert. Denn politische, ethische, humanitäre etc. Auffassungen über den Menschen sind passé, der transhumanistische Mensch geht die perfekte Synthese zwischen sich und der digitalen Technik ein. Was man mit der Googlebrille natürlich nicht vermag, ist der Blick in das Wesen, in das Herz des Anderen.


Damit ist eigentlich schon alles gesagt, was der Autor des genannten Artikels so definitiv nicht formuliert. Er weiß natürlich, dass es die Brille in Kürze geben wird und sich die Technik ja noch um vieles verbessern und mit anderen Techniken (gleich einen Chip in den Kopf implantieren) noch wesentlich steigern können wird. Schon vor zehn Jahren habe ich in meinem Buch „Das konjekturale Denken“ eine Schrift von P. Virilio zitiert, in der er beschreibt, wie mit der „computergestützten Wahrnehmung, der Visionik . . der Sehmaschine“ ein Wahrnehmen ohne Blick möglich sein wird . Die Maschine tastet die Objekte ab, vergleicht sie mit dem ungeheuren Datenschatz in ihrem Inneren und liefert sekundenschnell eine fertige Interpretation dessen, was sie gesehen hat. Wir selber brauchen gar nicht mehr hinzuschauen, ob unsere Arbeit richtig läuft, Wesentliches in der Zeitung steht oder uns eine Frau gefällt, denn alles erledigt die Maschine. Wir sind derweil mit Träumen und Wohlbefindlichkeitsübungen beschäftigt.  Allerdings gesteht der Autor ein, dass von „der Sehmaschine, die ihren Benutzern nicht nur eine `objektive´ Information über bestimmte Ereignisse, sondern auch eine `subjektive´ optische Interpretation der beobachteten Phänomene liefert, die Gefahr ausgeht, dass sie zu einer Zweiteilung des Realitätsprinzips beiträgt“, d. h.  wir wissen dann noch weniger als vorher, was unsere eigentliche „wahre“ Realität ist. Wir können uns durch die Maschine schneller in verschiedene Realitäten einarbeiten, aber wie diese in Bezug zur Wahrheit stehen, zur „wirklichen“ Wahrheit, welche also von all den (z. T. auch schon gespeicherten) visuellen Realitäten dann das wahre Reale ist, wird wieder ganz erheblich zum Problem. Die Sehmaschine, für die die Googlebrille also bereits das Einsteigermodell ist, wird zwar wieder unsere Welt verändern, aber nicht grundlegender klären. Grausamkeit und Lust werden sich gleich bleiben. Waren früher die Götter maßlose Herren, so sind eben heute die Maschinen nichts als versklavte Götter.  Wir selbst sind weiterhin maßlose Sklaven geblieben, indem wir uns für göttliche Herren halten.
Was Gott angeht: der Autor des ZEIT-Artikels nimmt vor allem zur neuen sich aus dieser Technik ergebenden Theologie Stellung. „Am Anfang der Zeit, so steht es in der Bibel, hat der Allmächtige alle Dinge mit seinem Wort beseelt . . . Wir müssen den Gottestext nur lesen, dann werden wir erkennen: alles ist gut. . . . die transhumane Welt ist wieder ein Buch, . . geschrieben diesmal vom Google-Gott,“ der aus den Informationen seiner Brillenträger die Schöpfung sogar noch verbessern kann. Der Mensch wird an dieses neue transhumane System „angepasst – und zwar so, dass ihm diese Unterwerfung nicht als Zwang erscheint, sondern als freie Entscheidung, die ’ganz viel Spaß‘ macht,“ wie die Google-Chefs in der gleichen ZEIT-Ausgabe an anderer Stelle schreiben. Eben, wir werden uns für göttliche Herren halten, wobei an den Herren als solchen nichts auszusetzen ist, aber statt göttlich sollten wir menschliche Herren bleiben, die sich einer „Wissenschaft  v o m  Subjekt“ bedienen. Nicht technik- und objektbezogen, sondern selbst- und subjektbezogen.
Als eine „Wissenschaft  v o m  Subjekt“  titulierte J. Lacan nämlich die Psychoanalyse. Sie ist eine „praktische Logik“, sagte er auch, die in gewisser Weise „der Liebe unterstellt“ ist. Ich zitiere in diesem Zusammenhang gerne von Neandertalerforscher T. Appleton, der behauptete, dass wir nur mit Liebe den Neandertaler verstehen können. Jede Wissenschaft versagt hier, auch und ganz besonders die moderne Paläoanthropologie, die ja nur ein paar Knochenreste mit Genbruchstücken und Steinabschliffe von ihm hat. Um diese Früh-menschen zu erfassen, müssen wird einfach zur Liebe, zur vollkommenen Sympathie, zur ganzheitlichen Identifikation, zurückkehren, um überhaupt ein bisschen von diesen Frühmenschen zu erfühlen und zu erkennen. „Wir haben keinen Grund, uns über die Neandertaler zu erheben“, schreibt Appleton. „Der amerikanische Anthropologe Milford Wolpoff sagt, er sehe einen Neandertaler jeden Tag – wenn er in den Spiegel blicke. Man hat diese Aussage als Witz gewertet. In Wirklichkeit zeigt sich darin ein tiefer philosophischer Ernst, eine Bereitschaft, dem Neandertaler mit Ernst und Liebe zu begegnen. . . . Das Wort Liebe ist keine paläoanthropologische Kategorie und klingt in diesem Zusammenhang verdächtig nach Esoterik. . . Doch dem Neandertal-Menschen mit Liebe zu begegnen bedeutet einfach, sich einer kognitiven Erfahrungsmöglichkeit zu bedienen, die bisher noch nicht ausreichend genutzt worden ist“. 
Es gibt also auch andere „Techniken“, die man nutzen kann. Es muss nicht unbedingt die Google-Brille sein, deren Informationen ohnehin sehr nüchtern und rein lexikalisch sind. Die Brille, die die Psychoanalyse nutzt, ist eine ins eigene Innere. Der Patient bzw. Analysand in der analytischen Therapie muss frei alle Einfälle äußern, die ihm gerade so in den Sinn kommen. Am besten würde er direkt von den inneren Bildern sprechen, die sich in ihm über- oder durcheinander gelagert haben. Denn so kämen nämlich nicht die Informationen heraus, die im Google-Speicher als Sachlexikon vorhanden sind, sondern die ins eigene unbewusste Gedächtnis verdrängt sind. Es wäre ein Blick ins Herz des Anderen, jedoch des Anderen so wie es in uns als Anderes, Fremdes, Verdrängtes und doch zu uns Sprechendes präsent ist. Das Verdrängte im Unbewussten ist das, was am schlechtesten erinnert wird, dennoch aber gerade durch den aktiven Verdrängungsmechanismus am besten dort in Form von Botschaften gespeichert ist. Oft kommt man allerdings mit den „freien Assoziationen“ nicht tief und weit genug an dieses Gedächtnis im Unbewussten heran. Schließlich kommen ja die Bilder nicht direkt zum Zug. Man muss sie aus den Assoziationen durch Deutungen und anreichernde Einfälle enthüllen. Ich konnte ein Verfahren entwickeln, dass die Enthüllung wesentlich vereinfacht und die Botschaften des Anderen in uns direkt zu Gehör bringt.
Es ist genau umgekehrt aufgebaut wie die Google-Brille. Das Verdrängte, die verleugnete Botschaft im Inneren des Menschen ist sozusagen unbewusst ständig in seinem verstellten Blickfeld, in verdunkelter Sichtweite. Denn das Verdrängte sucht sich ständig einen Weg zum Bewusstwerden und muss dabei oft die Umwege wählen, die ihm in Form von Symptomen angeboten werden, die dunkel und unklar erscheinen. Das ist leidvoll und deswegen soll es ja auch enthüllt und erkannt werden können. Im Symptom aber versteckt es sich. Doch bevor es ganz zum Symptom kommt, ist es sozusagen schon im inneren Blick. Es bedient sich des Wahrnehmungstriebes, der nicht nur aus der Schaulust im Außen sein Ziel findet, sondern auch in der Bild- und Blickspiegelung im Inneren. Dies wird ja besonders im Traum sichtbar, in dem der Schautrieb nach innen und oben kippt, sich also umwendet, umschlägt, umwandelt in die Richtung, die durch den Konkavspiegel des Großhirns gegeben ist. Dort toben sich ja die verdrängten, aber natürlich auch die seit jeher abgelagerten Bilder aus, wenn die neuro-psychische Tätigkeit sich von außen zurückzieht.
Nun hat man in Meditationstechniken immer schon diese Blickrichtung nach außen zugunsten einer nach innen gehemmt und umgewandelt.  Dadurch wurden innere Bilder sichtbar, indem sie zwischen dem gerade genannten Konkavspiegel und einem Brennpunkt etwa in Höhe der Augennervenkreuzung gehalten werden konnten. Lacan nennt diese Umwandlung, diesen Punkt einer prismatischen Zwischenregion im Spiegel-Seh-Feld (so nenne ich jetzt diesen Brennpunkt) den „Subjektpunkt“ seiner Bild-Blick-Theorie. Hier inkarniert sich das, was das Subjekt am liebsten sehen würde, was seine Schaulust im intensivsten befriedigen würde und was damit also das ist, was von den inneren Blicken am meisten gesucht, aber - wegen der Verdrängung – am wenigs-ten gefunden wird. Diese Vorgänge müssen unser Alltagsleben nicht unbedingt erheblich stören, denn das Ich und das Überich sowie Formen, die das Ich sich zum Ideal gemacht und zementiert hat, halten das Toben der Bild-Blicke im Schach. In einer Meditation wird dieses In-Schach-Halten zwar wie erwähnt etwas aufgehoben, es hängt jedoch von der Meditationsart ab, wie mit den nunmehr verbesserten und geöffneten Einblicken und Enthüllungen umgegangen wird. Ob es also eine wirklich gelungene und evtl. wissenschaftlich gesicherte Umwandlung geben kann.
Bei den meisten Meditationsmethoden verwenden religiöse, ethisch-kulturelle oder mythisch-mystisch geformte Regeln als ein Instrument, wie mit den enthüllten Ergebnissen zu verfahren ist. Es ist klar, dass dies kein ausreichend wissenschaftliches Vorgehen darstellt. Ein exaktes Vorgehen kann nur darin bestehen, die Bildbezogenheit des Unbewussten („Subjektpunkt“) mit seiner Sprachbezogenheit (Botschaften) in eine klare und wissenschaftlich begründete Kombination zu bringen. Die Google-Brille kann – wie der zitierte Autor ebenfalls bemerkt - äußerstenfalls wie bei Facebook auch persönliche Details wiedergeben, wenn man z. B. via Gesichtserkennung irgendwelche Menschen auf der Straße trifft, von denen man vielleicht wissen will, ob sie Singles sind. Aber ist es wirklich so gut, immer zu wissen, wer Single ist und wer nicht? Überhaupt, was ist wirklich ein Single? Ist ein Single total allein und mehr oder weniger schon einsam und sucht daher dringend jemanden? Oder benötigt er vielleicht schon einen Therapeuten und nicht wieder nur einen anderen Single? Und wen sucht der Single A, sind Single B, C und D vielleicht gar die falschen? Also muss man weiter differenzieren. Warum nicht gleich in das Herz des Anderen schauen?
Der/Das Andere ist bei Lacan nicht nur der äußere Fremde, sondern auch der Umwandler in uns selbst, von dem ich gerade gesprochen habe. In der entscheidenden Phase ist der innere und äußere Andere der gleiche. Er oder Es ist eben nicht der andere meinesgleichen (daher klein geschrieben), sondern der oder das bedeutende Andere (groß geschrieben), der Umwandler eben, der unseren Blick und auch die Botschaften verwandeln kann. Nicht von Mann zu Mann, von ich zu ich, findet die wirkliche Kommunikation und Enthüllung statt, sondern innerhalb dieser Bezogenheit auf den/das Andere(n), innerhalb des Anderen als solchem, im „Umw-Ander“, im Wandel durch Andersheit. Man kann dieses W-Ander- und  Wandlungsmoment wissenschaftlich nur durch einen dem Begriff der „Transsubstantiation“ ähnlichen Vorgang beschreiben. Doch die Substanz, die hier, in dem von mir begründeten Verfahren,  übertragen werden soll, ist nicht der – irgendwie ja doch spiritistische „Leib Christi“, sondern der „linguistische Kristall“ wie Lacan es nennt. Er/Es ist kristallin, hat reale Strahlt-Form, hat aber auch reale Wortform.
Denn um in das Herz des Anderen zu schauen, muss man sein eigenes Herz schon Anders gestaltet haben und dies funktioniert am bestem mit dem Prisma des „linguistischen Kristalls“, der von innen nach außen und von außen nach innen „transsubstanziieren“ kann. Schon immer haben sich Wort-Spiele dafür recht gut geeignet. Aber sie sind nicht wissenschaftlich. Ich habe in meinem Verfahren, das ich schon häufig vorgestellt habe und daher hier nur auf Grundlagenartikel verweise (Analytische Psychokatharsis), sogenannte Formel-Worte entwickelt, die man meditieren kann. Eine Frau, die damit schon seit einiger Zeit übte und auch bei mir in analytischer Psychotherapie war, kam der Gedanke, dass ihr ganzes Leben doch nur ein Theaterstück war. Sie wollte noch sagen: ein Theaterstück, in dem sie keine Rolle spielte, als sie ein bisschen in Versunkenheit geriet und sich denken hörte: in der X. Anderson die Hauptrolle spielte.
Wir hatten zuvor vom (großgeschriebenen) Andern Lacans geredet und der Ausdruck „in der X. Anderson die Hauptrolle spielte“ klang meiner Patientin wie ein Schablonengedanke, ein Vorspann, den  man ständig über Filme hört, ein fast verhöhnender Refrain ohne Emotion. Aber meiner Patientin fiel natürlich gleich auf, dass der Hauptdarsteller ein Mann oder eine Frau mit dem Namen Anders(on) sein sollte, also genau der/das Andere in dem oben besprochenen Sinn. Nun bedeutete dieser Einfall jedoch genau das Gegenteil des von ihr eigentlich schon vorgedachten „in dem sie keine Rolle spielte“. Das Gegenteil oder die passende  Ergänzung, denn Frau Anders zu spielen wäre ja geradezu die ideale Rolle gewesen. Ihr Fehler war ja – wie sich schon in vielen Stunden vorher gezeigt hatte – dass sie immer die gleiche war, einfühlsam, korrekt, bescheiden usw. Zudem: es hätte gar nichts genützt, wenn ich oder jemand zu ihr gesagt hätte, sie solle doch nicht immer die gleiche sein, die gleiche Rolle spielen, sondern einmal eine andere Rolle übernehmen.
Welche andere? hätte sie gesagt. Aber weil es aus ihrem eigensten Inneren kam, war die Botschaft viel eindrucksvoller. Und dass ihr dabei auch das Wesen des Anderen, die Theorie dieses Anderen authentisch aufgegangen war, kam noch als therapeutischer Effekt hinzu. Denn es war ja wirklich so gewesen, dass sie es anscheinend gar nicht selbst gedacht, und doch auch selbst als Eigenes-Anderes vernommen hatte. Es waren nicht die Gedanken eines fremden, ganz außerhalb stehenden anderen (kleingeschrieben) wie es vielleicht in Halluzinationen der Fall ist (auch wenn hier das Wesen des Lacanschen Anderen eine Funktion hat). Es war Ich als Anderer, wie es A. Rimbaud schon gedichtet hatte, als er schrieb „Ich  i s t  ein Anderer“ (er hat nicht geschrieben „Ich bin ein Anderer“, was psychotisch geklungen hätte). Die Erweckung dieses „linguistischen Kristalls“ namens Anders(on) durch das Üben mit den Formel-Worten und die begleitende Psychotherapie sind mehr als es ein Wortspiel oder sonst etwas ermöglicht hätte. Anderson mag nach einem skandinavischen Namen klingen, aber die Assoziationen der Patientin gingen genau in die oben geschilderte Richtung.
Eine derartige Transubstanziierungs-Maschinerie bringt heutzutage auch der spiritistisch übertragene „Leib Christi“ nicht mehr zustande, er ist veraltet. Und auch die klassische Psychoanalyse allein vermag nur selten und mit sehr vielmehr Aufwand eine solche Lösung wie die beschriebene zu erreichen. Die Visionik einschließlich der Google-Variante kann derartig subjektbezogene Erkenntnisse und Enthüllungen schon gar nicht vermitteln. Sie enthüllt nur das herunter zu leiernde Wissen das Google-Gottes, die Phantasien seiner Informationswut und nicht das des wahren Anderen in uns und uns gegenüber.