Sich innerlich berühren

Der "innere touch"
Schon die Griechen kannten den „Gemeinsinn“, speziell Aristoteles soll einen „inneren Sinn“, den koinos aisthetos  postuliert haben. Es war vor allem der Tast- und Berührungssinn, der ihn dazu animierte. Und tatsächlich, wir sprechen problemlos von der Schaulust, aber nicht so einfach von der Tast- und Berührungslust. Wir sprechen vom Blick als dem Objekt der Schaulust, aber nicht vom „Getast“ als dem Objekt einer Hautlust. Von der Psychoanalyse her ist das nicht schwer zu verstehen. Die Haut- oder Tastlust ist viel intimer als alle anderen Lüste. Was mit ihr zusammenhängt muss viel stärker verdrängt werden. Auch in der sogenannten Ur-Szene, in der das Kind die Intimität der Eltern wahrnehmend sich erschrocken und verschämt zurückzieht, ist es nicht der Blick, der verstört, sondern das innerliche zugleich sinneserregende und abstoßende Angerührtsein. Ein „Es Fühlt“, „Es Empfindet“ könnte uns vielleicht anschaulicher vermitteln, was mit diesen „inneren Sinn“ wirklich gemeint ist, der von der Wissenschaft auch als Könästhesie (koinos aisthetos) bezeichnet wird.


D. Heller-Roazen hat ein Buch geschrieben, das in deutsch unter dem Titel „Der innere Sinn“ erschienen ist. Der englische Original-Titel „The inner Touch“ ist viel anschaulicher. Es geht um ein inneres Berührtsein, das unbewusst in uns existiert, aber man kann es auch in sich wecken und fördern. Wenn Sokrates im „Phaidros“ von den Hügeln um Athen herunterwandert zum Meer hin, den Duft der Machhia einatmend und mit seinem Schüler ein wunderschönes Gespräch führend, schwärmt er auch von der „Unsterblichkeit der Seele“. Freilich hat es sich nicht um die Psyche jeden Einzelnen gehandelt, um das Gemüt, das Emotionale oder Ähnliches. Es war eine universelle Seele, an der jeder teilhaben konnte eben genau in dem Sinne des Gemeinsinns, des koinos aisthetos. Dieser Gemeinsinn, oder wie wir jetzt auch sagen könnten: dieser innere „touch“, reichte weiter als der Gemeinsinn eines Clans oder einer politischen Gruppierung, einer Nation oder gar einer Millionen umfassenden Religion. Deswegen war er ja auch unsterblich. Es muss wohl so gewesen sein, dass Sokrates sich mit allem und jedem eins fühlte und er von da, von diesem umfassenden inneren „touch“ heraus, aus seine Philosophie verbreiten konnte.
Auch für die Psychoanalytiker gibt es also diesen inneren „touch“, sie halten ihn nur für „urverdrängt“, also von ursprünglichsten seelischen Gegensätzen beherrscht. Dies ist zumindest Freuds eigene Definition. Das zu viel Berührtsein in der Ur-Szene führt zu ihrem Totalverdrängen, zur völligen Abwehr des „Es Empfindet“. Es empfindet dann nur noch gespalten, verleugnet, verworfen, und diese Spaltung dominiert dann ein Leben lang die Gefühls- und Gedankenwelt des Betreffenden. Wir kennen aus der Neurologie beim sogenannten Contard-Syndrom, dass Menschen selbst ihre eigenen Organe als von sich abgespalten und fremd  erleben und sogar vehe-ment behaupten, man habe ihnen andere eingepflanzt. Und so macht die Erfahrung einer ungeteilten Seele, einer Unsterblichkeitsvision wohl heute keiner mehr. Psychoanalytiker sprechen vom neurotischen Unsterblichkeitsphantasma mancher psychisch Kranker, so als wäre Sokrates persönlichkeitsgestört gewesen und die Menschen heute eben auch.
Es geht jedoch darum, dass man sich mit allem und jedem eins fühlen kann ohne deswegen persönlichkeitsgestört sein zu müssen. Man muss nur den inneren „touch“ wieder beleben, und vielleicht sich dabei etwas weniger schwärmerisch ausdrücken. Wir leben in einer cooleren Zeit und unsterblich heißt nicht, dass das eine Ich samt Überich und Ich-Idealen plus dem eigenen Körper nicht sterben muss. Den eigenen Tod erlebt man ohnehin nicht. Es gibt vielleicht Ängste vor dem Sterben, man kann vorher Schmerzen haben oder unheilbar krank sein. Trotzdem kann man den inneren „touch“ bis zur Planck´schen Mikrosekunde bewahren und muss nicht über den Tod als eine Begrenzung nachdenken. Es genügen schon zwei Tode im Diesseits, um zu wissen, was das Jenseits ist, schreibt Lacan. Es handelt sich dabei um Tode, die man in einer Psychoanalyse machen kann, wenn man alles von sich preisgeben und enthüllen oder wenn man Verluste oder Verzweiflungen durchmachen muss oder Ähnliches mehr.
In der Analytischen Psychokatharsis kann man das Zweimalsterben auch gezielt lernen und so für das Leben gewappnet sein. Man lernt dabei sich innerlich zu berühren. Die Psychoanalytikerin M. Mitscherlich betitelte ihr letztes Buch mit „Eine Liebe zu sich selbst, die glücklich macht“. Das klingt narzisstisch, nach ungehemmter Eigenliebe, aber die Autorin meint im Grunde genommen eine Art von Sichannehmen durch inneres Berührtsein. Es geht nicht um eine Autoerotik oder emotionale Selbstliebe, um  „zvui Gfui“ für sich selbst, wie man in Bayern sagt. Um den inneren „touch“ zu erfahren, muss man sich auf zwei auch äußerlich bekannten Wegen dem Inneren nähern. Man kann nicht schon eine Einheit, ein vorgefertigtes Ganzes dazu benutzen, wie dies viele Esoteriker aber auch Philosophen und gläubige Menschen tun. Man muss die Spaltung akzeptieren und dann daraus einen Weg zur inneren Ganzheit machen, die sich auch mit dem Außen so gut verträgt, dass es ein Gemeinsinn ist.
Will man wissenschaftlich vorgehen, empfiehlt es sich einen Vorgang zu wählen, der von außen nach innen geht wie etwa die Wahrnehmung und einen anderen, der von innen nach außen geht wie die Entäußerung, die beim Menschen meist und auch am geeignetsten eine sprachliche Äußerung ist. Lacan hat diese zwei Wege als von Freud her entwickelt im Wesen des Wahrnehmungs- bzw. Schautriebs und des Invokations- bzw. Sprechtriebs konzipiert. Man könnte statt Triebe auch Prinzipien sagen, des ist egal. Wichtig ist, dass diese Wege „praktisch-logisch“ sind, also nicht nur Theorie darstellen und doch wissenschaftsgeleitet sind. Während man in der klassischen Psychonalayse die Triebe, Kräfte, Prinzipien, nicht unmittelbar erfahren kann, ist dies – in sehr formalisierter Weise – in der Analytischen Psychokatharsis möglich. Das hat Vorteile. In den herkömmlichen Psychoanalysen wird nämlich kaum jemals die Erfahrung des „inneren touch“ gemacht, zumindest nicht so, wie man es vom „guten inneren Objekt“ behauptet, wenn es „Konstanz“ erreicht hat.

In ihrer formalisierten Form sind die beiden genannten Wege durch-aus auch als psychische „Objekte“ zu kennzeichnen. Denn im Ge-gensatz zu den anderen Trieben wie sie Freud konzipiert hat, also z. B. der Oraltrieb (die Mund- oder Schling-Lust), haben Schau- und Sprechtrieb kein so isoliertes Objekt, an das sie sich halten. Beim Oraltrieb ist das Primärobjekt die Brust der Mutter und später werden andere erotisierte Objekte sie ersetzen. Das Objekt – sagte daher Freud – ist das „variabelste am Trieb“. Dies ist beim Schau- und Sprechtrieb nicht so. Diese beiden Kräfte sind mit ihren „Objekten“ so verbunden, das man Kraft, Energie, Trieb einerseits und Objekt Gegenkraft (könnte man auch sagen) andererseits, nicht so isoliert  unterscheiden kann. Der „Blick“ ist selbst eine „Kraft“, was man am besten am Blick des Malers sehen kann, an dem er uns ja zu einem großen Teil und in vieler Hinsicht teilnehmen lässt. Das gilt insbesondere auch für den unbewussten „Blick“, das „unbewusste Sehen“,  das man auch als eigenständiges Blickhaftes neben den Werken der Malerei konstatieren kann. 
Das Gleiche gilt auch für die „Stimme“ als Objekts des Sprechtriebs. Auch die „Stimme“ ist eine originäre Kraft, man muss es allerdings in Anführungszeichen schreiben. Denn die unbewusste „Stimme“ kann eventuell auch nur Laute von sich geben, und auch hier ist es die Kunst, die ideale Beispiele liefern kann. Ich erinnere nur an Dichter wie Ernst Jandl und seine „Lautgedichte“ wie „schtzngrmm“ und „falamaleikum“ oder an James Joyce und sein Werk „Finnegans Wa-ke“. Wortklangbilder sind hier wichtiger als sinnvolle Worte, d. h., die entstellten Worte oder Sätze bekommen gerade dadurch einen besonderen Sinn. Dann scheint nämlich eine „Stimme“ aus der Mitte dieser Dichtungen zu sprechen, die die des Unbewussten des Dich-ters selbst ist. Und so kann jeder in sich selbst die „Stimme“ seines Unbewussten wahrnehmen, die auch das Unbewusste des Kollektivs miteinschließt, in das der Betreffende eingebunden ist. Und so gibt es auch ein Blickhaftes, das Blick-Bild des Subjekts sozusagen, das ebenso unbewusst in jedem schlummert.
Lacan hat die Seite des „Blicks“ in topologischen Figuren zu fassen versucht. Ich erwähne nur das Möbiusband. Doch gibt es auch andere einfache Formen und Figuren, die das subjektbezogene und bildhafte Unbewusste in konzentrierter Form darstellen können. Dass es etwas Einfaches und Konzentriertes sein muss hat damit zu tun, dass der „Blick“ ja mit der „Stimme“ kombiniert sein muss, will man in mü-heloser Form das Zweimalsterben und den „inneren touch“ erreichen. Das linke Bild soll ein Beispiel zeigen. Dieses beinhaltet neben dem bildhaften & - Zeichen (Und- Zeichen) auch ein daraus geschriebenes Formel-Wort. Damit ist auch gleich eine Kombination mit der „Stimme“ dargestellt. Die Formel-Worte werden in der Analytischen Psychokatharsis für das meditative Üben verwandt (siehe Näheres auf der Webseite dazu). Es gibt sicher viele andere evtl. auch bessere Beispiele, so etwa der Ausschnitt eines Bildes von T. Heydecker mit einem anderen Formel-Wort.
In der Analytischen Psychokatharsis werden durch das Üben mit einer derartigen kompakten Bild-wort-haften Struktur sogenannte Pass-oder Identitäts-Worte erzeugt, die nun „Stimme“ und „Blick“ des Unbewussten ideal kombiniert ausdrücken können. Auch dazu muss ich auf Details der Webseite verweisen. Auf jeden Fall lässt sich nur so, eingerahmt durch ganz strenge Formalismen, der „innere touch“ verwirklichen. Er stellt das subjektbezogene wundervolle Einssein dar, den glücklichen Gemeinsinn, das Ziel des Verfahrens und die Erfassung der eigenen wahren Identität.

(Einführung in die Analytische Psychokatharsis auch in der kostenlos herunterladbaren Broschüre "Die körperlich kranke Seele").