Der erlernte Wille

Dies ist ein Auszug aus meinem Buch „inter-hot“, in dem es um die Frage geht, in wie weit man das, was Freud ‚Triebschicksal‘ nannte und ich ein ‚Schicksalslogo heiße, verändern und verbessern kann. In seinem Buch ‚Ich denke, also will ich‘ kreist der Philosoph J. Baggini um das Phänomen des ‚freien Willens‘.[1] Er konstatiert, dass der ‚freie Wille‘ keine festzulegende Sache ist, nicht objektiv fassbar, nicht durch Beispiele und Theorien erklärbar. Aber in der ‚realen Freiheit‘ unserer heutigen, westlichen, zivilatorischen Welt gibt es eine klare ‚Ermessenswahrheit‘ dafür, dass wir – nicht ständig, aber doch immer wieder – ‚freie Willensentscheidungen‘ treffen können. Obwohl in den modernen Wissenschaften wie den Neurowissenschaften, Gesellschaftstheorien, Politik, Psychologie und nicht zuletzt ja auch der Psychoanalyse gerne die Determiniertheit, die Vorbestimmtheit des Subjekts beschworen wird, sieht der Autor keinen Widerspruch darin, auch inmitten von Zwang, Gesetzen und Regeln Raum für willentliche Freiheiten zu entdecken.

 

Der einzige Ausweg aus dem Streit und dem Dilemma, ob es nun einen ‚freien Willen‘ gibt oder nicht, liegt also darin, den ‚freien Willen‘ durch keine Definition einzugrenzen. Baggini meint, dass „viele Dinge, die sich nicht gegenseitig stören“, auch wenn es Automatismen, neurologische, genetische und physikalische Festlegungen und Fixierungen sind, dem Willen in ausreichenden Maßen seine Freiheit lassen. All dies klingt verbindlich und nicht unlogisch, das Problem mit dem ‚freien Willen‘ ist sozusagen philosophisch gelöst. Aber genügt dies? Kann man nicht etwas weitergehen und einen Weg aufzeigen, wie man bewusster, spürbarer und damit ja wohl auch verantwortungsvoller mit dem ‚freien Willen‘ umgehen kann? Zu Recht schreibt Baggini, dass eine zu weit gehende Freiheit eher zum Unglück führen würde, denn man wüsste dann gar nicht mehr, wer man eigentlich ist. Der ‚freie Wille‘ muss ja etwas sein, das auch in der Persönlichkeit irgendwie verankert ist, so dass man sich in den Entscheidungen, die man eben doch aus  freien Stücken heraus fällt, einigermaßen sicher und gut fühlen kann. Trotzdem, kann man den ‚freien Willen‘ nicht lernen?

Nun schreibt Baggini, dass „die Empfindung für den ‚freien Willen‘ beim Menschen nicht ausgeprägt ist“, d. h. man merkt nicht, wann man wirklich frei und wann man aus unbewussten Zwängen heraus so oder so entschieden hat. Doch das ist nichts Neues, diese Bemerkung wiederholt nur die allgemeine philosophische Auffassung des Willen-Freiheits-Problems in dem vieles unbestimmt bleiben muss. Baggini erwähnt auch den altgriechischen Begriff der ‚Eleutheria‘, was für ihn ‚politische Freiheit‘ heißt. Doch ‚Eleutheria‘ bedeutet auch Edelmut, Anständigkeit, Vornehmheit. In diesen Übersetzungen liegt also eine Andeutung, die ich die Richtung eines Erwerbens, einer erlernten Fähigkeit geht. Der Edelmütige und Vornehme ist eben der, der freimütiger (eleutherios) ist, der mit dem ‚freien Willen‘ besser umgehen kann als das gemeine Volk. Dabei geht es um einen Edelmut, der nicht im Sinne einer Nobilität ererbt worden ist, sondern ganz offensichtlich erlernt werden konnte.

Ich komme in diesem Zusammenhang nochmals auf das Beispiel der Heiligen Hildegard von Bingen zurück. Sie konnte mit ihrer ‚Vision‘ von den Fixsternen, die sich – vertieft man sich nur lange und emotional genug in den lauen, sommerlich klaren Nachthimmel – so eindrucksvoll sind und die sich am Tage des ‚jüngsten Gerichts‘ durcheinanderwirbeln. Im übertragenen Sinne heißt dies auch, dass sie durch ihre plötzliche Beweglichkeit eine Änderung ihres Schicksalslogos ermöglichen. Denn der ‚Tag des Jüngsten Gerichts‘ ereignete sich für die Heilige öfters im Leben, er war für sie so etwas wie es heute in der Psychoanalyse eine gelungene Übertragungsdeutung ist: eine Interpretation ihrer persönlichsten Gefühle und Gedanken wie beispielsweise um ihre Mitschwester Richardis kreisten. Bekanntlich hatte die Heilige eine so innige, persönliche Beziehung zu dieser ihrer Mitschwester, so dass sie – als Richardis in ein anderes Kloster versetzet werden sollte – alle Hebel in Bewegung setzte und sogar den Papst anschrieb, man solle diese Versetzung nicht zulassen. So groß war die Liebe und die damit verbundene Liebessucht.

So groß war aber auch die ‚Eleutheria‘, als es ihr nach dem frühen Tod von Richardis gelang, sich von dieser Leidenschaft zu befreien und Bücher über die geistige Freiheit zu schreiben. Geistige Freiheit hieß auch, sich willentlich frei zwischen den wahren Größen des Seins zu bewegen, von der ‚viriditas‘[2] zur Spiritualität, von der Erde zum Himmel, von einfachen Alltagsproblemen zu religiösen Einsichten. Es geht hier nicht um Entscheidungen für Kleinkram, sondern um solche für wörtliche Aussagen, in die die Heilige ihre ‚Visionen‘ übersetzen konnte. Genau so etwas meinte ich auch mit den gelungenen Übertragungsdeutungen, die zu mehr Klarheit, Bewusstheit, Gleichmut und seelischer Festigkeit führen, aus der heraus der ‚freie Wille‘ sich nicht nur vermehrt äußern kann, sondern auch besser erfahrbar wird.

Mit diesem ‚besser erfahrbar‘ meine ich das, was Baggini den Menschen abspricht, vielleicht nicht gerade eine deutliche Empfindung, aber doch das verinnerlichte ‚gute Objekt‘ der Psychoanalytiker, eine seelische Stärke, in der man so ein bisschen baden und meditativ sich aufhalten kann. Gewiss ist damit nach wie vor keine ganz präzise Definition des ‚freien Willens‘ gegeben. Die gibt es – einvernehmlich mit Baggini – nun wirklich nicht. Aber ich kann damit etwas andeuten, zu dem ich ja schon reichlich in diesem Buch hinführen wollte: nämlich dass man den Zugang zum ‚freien Willen‘ auch ein Stück weit erlernen kann durch Psychoanalyse z. B. oder die Analytische Psychokatharsis.

Dies ist am besten an den Pass-Worten zu sehen. Nachdem durch die Wiederholung mehrerer Formel-Worte sich eine Tiefenentspannung mit der zu beachtenden Erfahrung eines ‚Strahlt‘ eingestellt hat, kommt es durch Konzentration auf den ‚Laut‘ (umfassender gesagt auf das ‚Spricht‘) zu genau dem, was den ‚freien Willen‘ letztlich ausmacht: eine sprachliche Lautfolge, die das eigene Ich anregt, seinen Inhalt zu deuten, wenn er nicht schon von selbst klar ist. Dabei wird nicht das simple Ich in seiner noch relativ unbestimmten Form gestärkt, sondern das Subjekt-Ich in seiner Deutungsfähigkeit und Rationalität. Dies spiegelt auch die Erkenntnisse der Freudschen Wissenschaft wieder, in der der Mensch als ‚materielles Subjekt‘ bezeichnet werden kann.

Freud lehnte sich sehr stark an die Naturwissenschaften an und wollte die Triebe als materiell-biologische Größen ansehen. Doch im selben Moment nannte er sie auch wieder „mythische Wesen, großartig in ihrer Unbestimmtheit“, also nur subjektbezogen erfassbar. Hinsichtlich seelischer Ursprünge unterschied Freud eine mehr topisch-formale von einer zeitlichen Regression, also Rückkehr zu einfacheren seelischen Strukturen oder Rückkehr zu früheren seelischen Formen. Dies geschieht in der Analytischen Psychokatharsis vermittels des ‚Strahlt‘. Es gibt eine ‚durchrieselnde Katharsis‘ oder eine innere Wahrnehmung von primären Figuren (Shiv Dayal Singhs Blick des Gurus) oder endogenen Mustern (Stern, Topologie). Bereits dies macht den Willen freier, aber er könnte dann in zu viele Richtungen wegwandern, könnte – wie oben angedeutet – zu unkontrolliert sein. Die Formel-Worte und die damit gebahnten Pass-Worte dagegen belassen dem Willen zwar seine Freiheit, führen aber dazu, dass das Seelenleben kontrollierter verläuft, ja dass man überhaupt weniger will. Diese in der Analytischen Psychokatharsis so wesentlichen Formulierungen machen wunschloser und sublimieren das Begehren in die Richtung einer Umformulierung des Schicksalslogos.

Gerade weil wir ‚materielle Subjekte‘ sind (Lacan sprach diesbezüglich vom Menschen als einem ‚Sprechenden Sein‘), können wir den ‚freien Willen‘ auch erlernen. Wir müssen nur erkennen, dass wir als menschliche Subjekte dem Unbewussten unterstellt sind (subicere = unterstellen), das heißt als biologische Wesen dem Wesen der Sprache, der symbolischen Ordnung angehören, und wenn wir uns damit auseinander setzen, bekommt unser Wille auch mehr Gehalt, mehr Wert, mehr Möglichkeit sich zu äußern.



[1] Baggini, J., Ich denke, also will ich, DTV (2016)

[2] Wörtlich übersetzt heißt dies die ‚Grünheit‘. Gemeint war eine allem Leben innewohnende frühlingshafte und lebenserneuernde Kraft.