Das untere und das obere Herz

Die Menschen zitieren oft den Satz aus dem ‚Kleinen Prinzen’ von A. de Saint-Exupéry: „Nur mit dem Herzen sieht man gut,“ denn so heißt es weiter, „das Wesentliche ist für die Augen unsichtbar.“ Die Formulierung klingt sympathisch, menschlich, schlicht. Jeder weiß sofort, was gemeint ist, nämlich dass das Herz als Sitz warmer, empathischer Gefühle das bessere Organ darstellt als das Auge, um die Dinge zu sehen und anzugehen. Doch um diesen Satz noch genauer zu verstehen, müsste man das Herz in ein unteres und ein oberes unterscheiden. Das untere Herz ist für die herzhaften, starken, emotionalen Gefühle zuständig. Es ist auch Sitz der Leidenschaften und manischer Anhängigkeiten. Dieses Herz kann sich an einen Schoßhund oder eine Blumenvase verlieren, es kann in Theatralik oder Erotomanie überschäumen, was nicht unbedingt schlecht oder falsch sein muss, aber es bleibt doch ziemlich weit unten, wenn man es von der Perspektive her betrachtet, die Saint-Exupéry gemeint hat.

 

Das obere Herz ist aber etwas anderes und kommt seiner Intention viel näher. Schon die Mystiker früherer Zeiten haben behauptet, dass sie das Herz in der Stirne trügen. Gemeint ist, dass sie zwar fühlen und innerlich intensiv dabei sind, aber auch ein Überblick, eine transzendente Perspektive dazugehört. Es ist das obere Herz, das eher ein sanftes Empfinden ausstrahlt, das subtile Empfänglichkeit und Hingabe kennt und zudem mit ein bisschen Vernunft begabt ist. Saint-Exupéry hat sicher eine Mischung aus beiden Herzen gemeint. Schließlich war er selbst ein großer Humanist aber auch ein Hallodri, ein Herzensbrecher – insbesondere was seine Beziehungen zu den Frauen anging. Für ein wissenschaftliches Vorgehen, das jedem Menschen gesichert eine Erfahrung dieses Herzens ermöglichen soll,  reichen meine Bemerkungen zum oberen und unteren Herz jedoch trotzdem nicht aus. Dafür muss man wieder ein bisschen auf die Psychoanalyse, die Meditation und die Frage nach dem Schicksalslogo zurückgreifen. Das Menschliche geht dabei nicht verloren.

Im Traum zum Beispiel sieht man auch nicht mit den äußeren Augen, sondern mit solchen, die irgendwie innen sind, weit oben im Kopf, im allerobersten Herzen. Denn was man dort während des Schlafens sieht, hat auch den Charakter des innerlich intensiven Dabeiseins. Es handelt sich um einen direkten, innigen Blick, der – laut Freuds Auffassung – von dem ‚Organ’ herkommt, dass den Trieb psychisch repräsentiert, eine primäre psychische Instanz also, der man gut den Namen des obersten Herzens geben könnte (‚Vorstellungsrepräsentanz‘ bei Freud). Ich hatte vorhin bereits den Begriff des Wahrnehmungs- bzw. Schautriebs erwähnt. Hierbei geht es um ein Geschehen aus Herzenslust, eben aus herzhafter Schaulust, einer Strebung, die sich an die Wahrnehmung anlehnt, allerdings ohne sich dabei wie im Traum viel Gedanken zu machen.

Die andere Seite stellen die Gedanken dar, wie ich sie schon mit den knappen und kompakten Formulierungen angedeutet habe. Denn natürlich kann man auch mit dem oberen Herzen nicht gut sehen, wenn die Gedanken zu zahlreich, zu komplex, zu sehr intellektualisiert und versachlicht oder einfach nur schlecht sind. Vor allem stören die Gedanken, die man bei sich selbst nicht mag, die ‚niedrigen‘ Gedanken, die Sicht des Herzens. Um mit dem oberen – oder auch mit beiden Herzen zusammen gut zu sehen, braucht man nur einen zusätzlichen Wortzug, nur eine zusätzliche „ultrareduzierte Phrase“ wie Lacan das Sprechen des Unbewussten nannte. An solch eine „Phrase“ kann das Herz sich hängen und dabei nach innen und außen sehen. Denn das obere Herz sieht auch nach innen gut, es dient auch der Selbsterfahrung, der Selbstsublimierung (Verfeinerung, Erhebung des eigenen Selbst). Und genau von einer derartigen verfeinerten Perspektive aus richtet sich der Blick des Saint-Exupéryschen Herzens nach überall hin und versucht auch etwas zu sagen. Die oben stehende Abbildung soll die sich gegenüberstehenden Begriffe zeigen, wobei zu sehen ist, was mehr dem unteren oder dem oberen Herzen näher steht.

Die Frage wie man zu diesem Herzens-Blick kommt, beantwortet Saint-Exupéry nicht direkt. Er lässt sie aus den Dialogen anklingen, die mit dem kleinen Prinzen, der Schlange, dem Fuchs und anderen entstehen. Zu Tage kommen sehr anheimelnde, humanitäre Aussagen wie z. B. auch die, dass man „zeitlebens für das verantwortlich ist, was man sich vertraut gemacht hat.“ Alles klingt lieblich und mystisch. Was mir jedoch vorschwebt, ist ein Verfahren, mit dem man nach oben gehen kann, um diesen ‚Über-Blick’ des oberen Herzens real und gestützt durch ein bisschen Wissenschaft zu haben. Religiösen Menschen wird dies vielleicht nichts Neues sein. Sie werden sagen, dass sie durch Beten und praktizierten Glauben auch dahin kommen, ein oberes Herz zu installieren. Sie glühen in einer Konfession, in einer Anbetung. Ich möchte mich aber auf keine Konfession festlegen. Alle sprechen sie vom gleichen Gott und bekriegen sich dennoch bis aus Blut. Ich wähle daher den allgemeinen Begriff des ganzen Herzens, bei dem der obere Teil der wichtigere ist auch als Ort einer transzendenten Perspektive.

Gott ist nämlich ein leerer Signifikant, ein toter Vater, und wenn man ihn so nehmen würde, hätte er die gleiche Wirkung wie mein „inter-hot“ oder andere Äußerungen, die aus dem ganzen Herzen kommen, wenn man ganz oben ist. Man muss wenigstens einmal ganz weit oben sein, und das geht eben nur mit Hilfe dieser Formel-Worte, dieser ‚ultrareduzierten’ Formulierungen, die einen gedanklich nicht so lange aufhalten und beschäftigen. So wichtig der Intellekt ist, ständige Rationalisierungen sind auf dem Weg nach oben hinderlich. Genauso ergeht es einem mit Ritualen und Operationalisierungen bestimmter Konfessionen. Jesus hat sich damit nicht aufgehalten, er hat die starren Regulierungen der sadduzäischen Priester gleichermaßen abgelehnt wie die gedankliche Akrobatik der Pharisäer. Wie Luther ging er direkt auf Gott los. Und auch die Psychoanalytiker sind – wie ich andeutete – in psychologische Scholastik zurückgefallen. Sie gehen nicht direkt nach innen und oben.

Nur Lacan macht hier eine Ausnahme. Er assoziierte in brillanter Technik frei vor sich hin nach der alten Methode: wovon das Herz voll ist, geht der Mund über. Aber sein Herz war vor allem oben voll. Diese Leistung macht ihm keiner so leicht nach, das würde auch mir nicht gelingen. Ich kann ihn höchstens auf der praktischen Seite der „logischen Praxis“ einholen, deren theoretische, logische Seite er uneinholbar ausgelotet hat. Dabei gingen manche seiner Ausführungen – vor allem die in den späteren Seminaren – weit in den mathematisch-geometrischen Bereich hinein, in dem ihm kaum noch einer folgen konnte. Er versuchte psychische sich gegenüberstehende Komplexe wie etwa ‚Anspruch’ und ‚Begehren’ in sich durchwindenden Knotenbildungen darzustellen, was deren Dynamik in abstrakter Form sicherlich treffend wiedergab. Aber die Umsetzung in die Praxis wie auch ein durchgreifendes Verständnis seiner Theorien ist den meisten seiner Hörer nicht so gut gelungen.

Lacan ist zu gut, zu assoziativ und vor allem orientiert an Linguistik und Topologie nach oben gegangen. Nun ist es ebenso nicht leicht weiterhin mit dem wissenschaftlichem Vorgehen wie ich es verstehe genau so weit nach oben zu kommen. Aber der Weg nach oben, wie ihn die früheren Mystiker gegangen sind, ist eben auch nicht mehr relevant. Wir können heutzutage nicht mehr Heilige sein wie Juan de la Cruz, wie Böhme, Tauler oder die Heilige Theresa von Lisieux. Die Heilige Theresa von Lisieux war extrem in ihrem Liebesrausch nach oben. Sie, eine der letzten ihrer Art, wünschte sich innigst, von ihrem Gottgeliebten „durchbohrt“ zu werden, wie andere Heilige durch Schwert oder Scheiterhaufen zu sterben (Gottseidank war dies zu ihrer Zeit alles schon abgeschafft), sowie gegeißelt und in siedendes Öl geworfen nicht nur eine, sondern „alle Martern zu erleiden“.[1]

Welch unglaubliche erotisch-anarchische Kraft hinter diesem zarten Mädchen stand. Welche Höllen-Himmel, auf jeden Fall nichts Irdisches. Die Heilige Theresa von Lisieux setzte alles daran, um von ihrem Gott regelrecht und wirklich „verzehrt“ zu werden, und tatsächlich verzehrt er sie im knusprig jugendlichen Alter von 24 Jahren. Sie stirbt an unbehandelter Tuberkulose, es ist tatsächlich an ihrem Leben alles eine Kraft des gequälten  Herzens, Körper und Seele gleichermaßen. Es handelte sich um eine schwere Neurose, die die Kirche bei ihrer Novizin nicht rechtzeitig erkannt hat, sondern fatalerweise noch unterstützte. Die Tuberkulose hätte man behandeln können, und so hat die gute alte ‚Marter-Kirche‘ bei ihrer letzten Heiligen wieder einmal vollkommen versagt. Aber sind wir heute weiter? Heute sind es die Mädels selber, die sich verzehren, die Es- und Ess-gestörten, die Magersüchtigen. Sie sind genauso gierig nach Verschlingen, nur verschlingen sie täglich eine kräftige Portion des Nichts, der blanken Null, des höllisch geliebten Ätherischen, des Überschlanken oder entkör­perlich­ten Vakuums.[2]

So ungut ist es nicht allen Heiligen ergangen, im Gegenteil: zu ihrer Zeit und in der damalig noch viel stärker dominierenden Glaubenskultur haben sie oft Erstaunliches geleistet. Aber es ist einfach nicht mehr der heutige Weg. Denn ganz oben sind auch die psychisch Kranken, die Selbstverliebten, die Geltungssüchtigen und die Psychotiker, die zu schnell und zu ungeordnet nach oben gegangen sind. Jetzt sind sie oben und kommen nicht mehr herunter. Sie sind auch nicht im Herz oben, sondern nur in sich selbst. Im Ego oder im sexuell motivierten Gedankenrausch. Denn das war Freuds Ausgangspunkt, dass das Denken nur ein verschobener Trieb ist, ein zu weit abgekommenes, verdrängtes oder abgespaltetes ‚Begehren’.

Deswegen ist auch die Rede vom ‚Herzen, mit dem man ausschließlich gut sieht’, mit Vorsicht zu gebrauchen. Handelt es sich um das Herz zu weit unten, geht es nur um „zu vüi Gfüi“ (zu viel Gefühl) wie man in Bayern sagt. Handelt es sich dagegen um das Herz oben oder zu exzentrisch weit oben, passieren leicht die gerade genannten Dinge. Somit braucht man ein wissenschaftlich begründetes Vorgehen wie die Analytische Psychokatharsis. Sie führt auf einem an der Psychoanalyse orientierten Vorgehen nach oben, nur direkter und ohne ständige Konfrontation mit dem Therapeuten. Sie führt einen eben ins Herz, in das mehr Bild- und Lichtbezogene, während man in der klassischen psychoanalytischen Sitzung im Rhetorischen, im Wortbezogenen verbleibt.

Letztlich braucht man beides, und der Kleine Prinz konnte nicht sagen, wie man sich dieses Herz, das obere und untere zusammen, das Wort- und Bild-, Lichtbezogene vereint erwerben, erlernen, erarbeiten kann. Für ihn war es mystisch gegeben, und da er spürte, dass er das Herz auf diese Weise gar nicht vermitteln kann, ließ er sich von der Giftschlange, die ihm schon anfangs ihre letzte Hilfe angeboten hatte, beißen und verschwand. Ich fand diesen Ausgang von Saint-Exupérys Geschichte eigentlich nicht gelungen, nicht schön, auch nicht psychologisch überzeugend. Es ist ein Märchen, für Kinder und Erwachsene gleichermaßen geeignet. Aber eben nur ein schönes Märchen mit einem etwas befremdlichen Ausgang. Ich versuche es in eine „logische Praxis“ zu übersetzen, weil man mit dieser nicht nur herzbezogen besser sehen, sondern von diesem Punkt aus auch besser sprechen kann.

Denn das ‚Davon Sprechen’ ist das Wichtigste. ‚Wenn du mich zähmst,’ sagt der Fuchs zu Kleinen Prinzen, ‚wird mein Leben wie Sonnenschein sein’. Und als er gezähmt war, schenkte der Fuchs ihm den Satz, dass man nur mit dem Herzen gut sieht. Aber wir zähmen immer nur andere, nicht uns selbst, und so könnte man das Märchen ergänzen: nur wer gut gezähmt ist, hat auch etwas zu sagen. Die Wissenschaftler sind nicht gut genug gezähmt. Statt dass sie das Wissen um die Kernspaltung bei sich behalten hätten, haben sie es in alle Welt hinausposaunt und die Atombomben gebaut und gezündet. Statt dass sie das Wissen um den Sex im Inneren jedes Einzelnen Gestalt und wahre Form annehmen lassen, schreiben sie Bücher über Bücher wie man den zu alle gemachten Sex praktizieren soll. Sie können einem nicht vermitteln, wie man sich mit der Seele, mit dem Herzen, mit dem Allerobersten prostituiert, wobei man völlig prüde bleiben muss.

Wie Saint-Exupéry war auch sein Zeitgenosse H. Carossa Schriftsteller, Romantiker und Weisheitslehrer. Er war Arzt und auch einer von diesen humanistischen Gutmenschen, diesen Wohlwollenden, die sanft und mit einem leicht väterlich beschwörenden Ton über das Wesen des Menschen philosophierten und positive Ratschläge erteilen. In seinen Gedichten und in dem Buch ‚Geheimnisse des reifen Lebens‘ dichtet er vom heimischer, tröstender Weisheit, und so hat man ihn einen Nachfolger Goethes genannt. Ähnlich der Dichterarzt C. Schleich mit seinem Buch ‚Besonnte Vergangenheit‘: ein Menschenfreund und Nostalgiker. Oder A. Schweitzer, der Demuts-Heiler, der nach Afrika ging. Und gar die Lyriker wie Tagore und Saint-John Perse, die ihre Liebe zur Transzendenz den Menschen wehmütig vorgesungen haben. Ich könnte noch zwanzig, dreißig weitere dieser wohlmeinenden Weltenkenner aufzählen, doch wo sind sie geblieben, wo sind sie heute? Niemand kennt sie mehr, wo sie doch einmal so wichtig waren. Ihr Schicksalslogo war das große Herz, mit dem sie alle gut sahen. Aber sie rüttelten die Welt nicht auf, sie schrien ihre Botschaften nicht aus sich heraus, sie klagten Gott und seine Politiker und Wirtschaftsexperten nicht heftig genug an. Sie besänftigten alle nur. 

Auch das Schicksalslogo, die ‚Verschränkung‘ Saint-Exupérys mit dem Kleinen Prinzen oder Carossas und A. Schweitzers Arztsein mit religiös-sozialer Tugendschwärmerei ist nicht die perfekte Herz-Metapher – und doch ist sie das auch. Denn diese Metapher verrät ohnehin nicht die ganze geheime Wirklichkeit dahinter, von der man nichts sagen kann. Aber man kann zu ihr motiviert werden. Es geht um den Punkt des Selbstredens, den ich eingangs als den missglückten Versuch der Linguisten, an die Wurzeln der Sprache zu kommen, dargestellt habe. Auch Tschuang Tses Wunsch jenseits der Sprache sprechen zu können, kreist um dieses Herz. Ich habe in meinem Buch ‚Herz-Sprache‘ versucht, diesen Punkt ausgehend vom medizinischen Aspekt her zu beschreiben. Es wurde ein langer Weg von der Erkrankung der Herzkranzgefäße bis zu dem Herzen, in dem sich Verstand und Gefühl zusammenfinden. Aber er hat sich für den einen oder anderen doch gelohnt, wenn ihm dadurch eine Bypassoperation erspart geblieben ist.

„Das Herz kann nichts von sich selber sagen“, schrieb ich damals (1992). „Das wäre das einfachste, dass ein Herz sich selbst direkt mitteilte - einfach so, lautlos, unsichtbar und doch erfahrbar, damit es ‚Herz-Sprache’gäbe. Der griechische Philosoph Parmenides konnte noch auf der Suche nach dem, "was das Sein wäre", behaupten, dass es sich selbst mitteilt, wenn man nur genau genug hinschaut. Aber in Wirklichkeit sagt er, Parmenides, es selber, und, Philosoph der er ist - reißt er sich dann das Sein unter den Nagel. Er behauptet einfach das Sein. Manchmal geht das in der modernen Medizin auch so: Man setzt einem Patienten einfach ein Kunstherz ein und behauptet dann, dass es genau das Herz sei, dass das jetzt fehlende des Patienten ersetzt. Es vermittelt sich - dieses Herz - genau dadurch, dass es ein Motor, eine Pumpe mit vier Kammern und einer entsprechenden Zahl von Adern daran ist, und eben durch diese Definition ist es austauschbar, ist es Sein wie das andere Sein. Ist es Ein-S-Ein.“ Aber dies stimmt natürlich nicht, denn mit dem Kunstherz sieht man schlecht.

Mit dem Ausdruck des ‚Ein-S-Ein‘ habe ich auch damals schon versucht, ein Formel-Wort zu finden, in dem sich eine Lösung andeuten sollte, physisches Sein und psychologisches Sprechen zu verbinden. Wie ENS-CIS-NOM und „inter-hot“ und einige andere, die ich noch vorstellen will, sind solche ureigene Namen schon deswegen so gut und so wichtig, weil es – wie ebenfalls wieder Lacan sagte – „wahre und wirkliche Liebe nur zu einem Namen geben kann“. Einem chiffrierten Namen. Man kann Objekte und Menschen lieben, aber man muss sie vor allem in den ihnen eigenen versteckten Namen lieben, damit es sich um eine „vollständige Liebe“ handelt. Eben deswegen gibt es die oben angedeuteten Probleme mit dem Sex, weil Sex kein Name ist, sondern nur eine Bezeichnung. Ein Zeichen ist etwas für jemand, aber ein Name im obigen Sinne ist Zeichen eines Subjekts, das Zeichen vom unbewussten Anderen, das Schicksalslogo, und das ist etwas ganz, ganz anderes.

Saint-Exupérys Schicksalslogo war einerseits das des abenteuerbesessenen Außenseiters. Er riskierte waghalsige Flüge mit Bruchlandungen und verklärte als Ausdruck von Todesverachtung diese Geschehnisse in einigen Büchern. Andererseits war sein Schicksalslogo auch durch die Heroisierung der Männerkameradschaften und einen militärischen Pflichtidealismus und sein schlechte Behandlung der Frauen mitbestimmt. So hatte er einige Amouren und ließ seine Frau lange Zeit (1939 bis 1943) allein in Frankreich zurück. Auch den frühen Tod des Vaters und des jüngeren Bruders hatte er nie ganz verarbeitet.  

Auf dem letzten Aufklärungsflug im Juni 1944 flog er eine Lockheed F-5, die er nicht mochte, obwohl sie wendiger und schneller war als die Flugzeuge, die er vorher geflogen hatte. Zudem wich er weit von der vorgesehenen Route ab, wohl weil er eigenmächtig Aufklärungsfotos von Marseille machen wollte, um – wie man sagt – seine weitere Verwendung bei der Luftwaffe zu sichern. Saint-Exupéry, der seine Frau verlassen hatte und den Schulgefühle umtrieben, hatte 1943 eine Bruchlandung (altersbedingt, Drogen?) hingelegt und wurde vorläufig ausgemustert. Der ‚kleine Prinz‘ kehrte so mit 44 Jahren viel zu früh zu seinem Asteroiden zurück.

Hätte er nicht noch der große Poet werden können? Vorbild für die Jugend als Pilot und Abenteurer, aber vor allem als humanitärer Denker? Solche Menschen würde man doch dringend brauchen, Weisheitssucher, die schreiben und in der Wüste meditieren (nach Notlandungen) und sich um die Hilfe vieler anderer Menschen kümmern (Saint-Exupéry hat - was auch für ihn gefährlich war - viele Piloten in Marokko in den zwanziger Jahren gerettet, die in der Wüste notlanden mussten). Wir bräuchten Heiler, deren Schicksalslogo ENS-CIS-NOM wäre, der Wort-Bild-Knoten, der das Letzte aus einem herausholt.



[1] Theresa  von  Lisieux,  Über die Liebe,  Deutsche  Verlagsanstalt (1962)

[2] Natürlich suchen sie unbewusst mehr Anerkennung und Bestätigung ihrer selbst, aber vom Triebdynamischen her ist es der gleiche Trieb wie bei der Esssucht, nur ist er verliebt ins Nichts.