Die Raumzeitverwirklichung

Die Physikerin und Professorin für feministische Philosophie K. Barad stützt sich in ihren Aussagen zu dem Phänomen der ‚Verschränkung’ auf die Komplementaritätstheorie des Physikers N. Bohr und zudem auf den Dekonstruktivismus des Philosophen J. Derrida. Barad bestätigt die Ansicht der von Bohr und auch von Heisenberg geäußerten Unbestimmtheits- bzw. Unschärferelation, die auf ‚Verschränkungen‘ innerhalb der Quanten beruht, indem sie sagt, dass Messinstrument und zu messendes Objekt zwar getrennt, andererseits aber auch vollkommen ‚verschränkt‘ und ineinander verwoben sind. Aber nicht nur die Objekte verhalten sich komplementär-verschränkt, sondern auch die Messinstrumente untereinander und auch Instrumente und Objekte gegenseitig. Sie kommt dadurch zu einer anderen Auffassung von ‚Fernwirkungen‘, die der Physiker A. Einstein als verrückt abgetan hat.

 

Barad verlässt zwar eine strengere mathematisch-physikalische Sichtweise. In dieser gilt, dass eine Einheit (Entität), die in der Physik wirkt, nicht an zwei Punkten zugleich sein kann, sonst bekommt sie eine subjektbezogene, irrationale Form. Der Physiker M. Esfeld meint dazu, dass in all diesen Fällen von ‚Fernwirkung‘ „eine präzise Definition von ‚Messung‘ gar nicht gegeben wird. Das ist auch nicht möglich. Denn physikalisch gibt es keinen Unterschied zwischen einem Messprozess und einer beliebigen Interaktion. Ferner sind Messgeräte keine natürliche Art von Gegenständen, die in der Natur unabhängig von unseren Interessen vorkommen wie eben Elektronen, Sauerstoffatome, DNA-Sequenzen . . . Vielmehr können beliebige Dinge von Experimentatoren entsprechend ihren Absichten als Messgeräte verwendet werden.“

Und weiter: „Wenn man definitive numerische Werte für Eigenschaften makroskopischer Objekte akzeptiert  . . . und wenn man die Quantenmechanik als vollständige Beschreibung der mikrophysikalischen Wirklichkeit anerkennt, dann muss man die Möglichkeit des Übergangs zu wohlbestimmten numerischen Werten in die Dynamik einbauen, die man für die Zeitentwicklung von Quantensystemen ansetzt.“  [1] An genau diesen wohldefinierten numerischen Werten scheiden sich nun die Geister. Barad hält sich meiner Meinung nach nämlich nicht genau daran und ich selbst schwanke ein wenig, was nun wirklich ‚wohldefinierte numerische Werte‘ sind. Hier liegt vielleicht eine zu einseitige mathematische Grundlage vor. Bei Lacans Mathematik, auf die ich mich gerne stütze und in der eine Eins eine Null für eine andere Eins repräsentiert, liegt wahrscheinlich keine Wohldefiniertheit vor. Trotzdem kann man mit ihr gut arbeiten. Denn diese Definition umgeht die Tatsache, dass es bis heute keine wirklich empirische Theorie der ersten ganzen Zahlen gibt.

Diesbezüglich kommt bei Barad nun Derrida zum Zug, der meinte, dass selbst die Sprache weitgehend unbestimmt ist, man kann immer wieder weiter etwas sagen und so zu keinem endgültigen Sinn gelangen. Deswegen muss man die Aussagen dekonstruieren, um zu ihrer letztlichen Aussage zu kommen. So ergeht es einem oft mit dem Wörtchen ‚Anfang‘, bei dem man sich ja fragen muss, ob man mit diesen sechs Buchstaben nicht schon anfängt, aber nicht sagt bei was, so dass man schon diese Buchstaben dekonstruieren müsste. Beim Lesen von K. Barads Buch[2] hat man den Eindruck, dass vielleicht alles irgendwie stimmt, aber sehr überbordend, zu weit ausufernd und überintellektualisiert sowie mit sehr vielen Fremdworten ausgestattet geschildert wird. Sie dekonstruiert vielleicht zu viel.

Aber egal, denn eigentlich will sie nur die generellen Unbestimmtheiten in allen Lebensbereichen aufzeigen, wie ich es schon eingangs mit den Begriffen der Unschärferelation und semantischen Unbestimmbarkeit erwähnt habe. Dabei macht sie eine sehr gute Bemerkung, die ich so wiedergeben möchte: nicht A ist mit B verschränkt, sondern jedes weist bereits in sich selbst eine Unbestimmtheit auf. Selbst Objekte sind in letzter Hinsicht  unbestimmt wie auch die Sprache und die Zahlentheorie. Insofern ist eigentlich nur die Unbestimmtheit mit der Unbestimmtheit verschränkt. Die ‚Verschränkung‘ in Physik und anderswo ist nur eine Lücke, ein Fauxpas, ein grundsätzlicher Mangel, und dieser findet sich eben auch in anderen Bereichen, wo Unbestimmtheit auf Unbestimmtheit trifft. Die ‚Verschränkung‘, der grundsätzliche Mangel besteht schließlich darin, dass es nicht eine ‚Interaktivität‘ zwischen A und B gibt, sondern in jedem der Teile eine ‚Intraaktivität‘ herrscht, die ‚iterativ‘, also sich ständig wiederholend ist. All dies nennt Barad auch die Raumzeitmaterialisierung.

Aber überschreitet sie nicht doch ein bisschen ihr Schicksalslogo, das ich mit der Überschrift meines Artikels hier herausstellen möchte, wenn sie z. B. von ‚verantwortungsvollen experimentellen Praktiken‘ spricht, die nötig sind, um etwa das Wesen der Priesteria, eines einzelligen Protisten, zu würdigen? ‚Verantwortlichkeit‘, schreibt sie nämlich, ‚beinhaltet, dem Organismus [hier also der Priesteria] Gelegenheiten zum Antworten zu bieten.‘ Geht das nicht zu weit? Muss man bei experimentellen Praktiken wie der Erforschung dieser Protisten, bei denen man nicht immer sicher weiß, ob sie nun Pflanze oder Tier sind, nicht Sorgfältigkeit und Behutsamkeit an den Tag legen? Schließlich können diese Protisten auf keinen Fall antworten, also sprachliche Antworten geben. Sie können reagieren oder gar mit dem Forscher interagieren, aber mehr doch nicht. Die ‚Verschränkung‘ zwischen Priesteria und Philosophin hält sich also doch in Grenzen? Denn man kann sein Schicksalslogo nicht ändern und verbessern, indem man zwischen sich und den Quanten ein Sprachkonstrukt, einen intuitiv-magischen Diskurs, ein wissenschaftliches tête à tête erzeugt. Was Barad fehlt, ist die ‚logische Praxis‘ Lacans, die ich auch der Analytischen Psychokatharsis zugrunde lege und in der jedes menschliche Subjekt den Null-Eins-Abstand und die Verschränkungsart mitbestimmen kann.

Trotzdem habe ich ihr Buch mit Interesse gelesen und beziehe mich gerade in diesem Buch von mir auf sie. Denn ganz im Sinne ihres Hinterfragens von Realismus, dem sie den Konstruktivismus gegenüberstellt, oder Objektivität, die sie oft als ‚Verkörperung‘ verstanden wissen will, zitiert sie J. Grahn hinsichtlich des Verstehens mit folgender Bemerkung: ‚Verstehen zu wollen, zur Basis, zur Wurzel oder zur versteckten Bedeutung vordringen zu wollen, ist das falsche Werkzeug. . . . Vielleicht ist es vielmehr interstehen, was wir tun, wenn wir uns auf diese Arbeit einlassen und uns in aktiver Beschäftigung mit ihr vermischen. Statt Bedeutung herauszuziehen, legen wir Bedeutung hinein.‘[3] Genau das  Wort „interstehen“ ist es natürlich, das mich fasziniert hat, denn es trifft exakt mit meinem „inter-hot“, über das ich ein ganzes Buch geschrieben habe und mit meinem methodischen, interaktiven Vorgehen zusammen. Aber nicht nur das finde ich bemerkenswert, auch Lacan betont häufig, dass ein zu gutes Verstehen in der Psychoanalyse meist der falsche Weg ist. Der Patient assoziiert etwas, und der Therapeut versteht dabei den Zusammenhang zu vorschnell oder zu gut, was dem wirklichen Hintergrund der Deutung nur hinderlich ist.

Ist nicht schon jeder –ismus ein Problem? Barad beschreibt keinen therapeutischen Weg, sondern lediglich einen politischen. Aber ist Politik ein wirkliches ‚inter‘? Man benötigt eines, das aus dem Unbewussten eines jeden einzelnen kommt, das also auch der Subjektbezogenheit gerecht wird. Denn freilich liegt die Hauptbedeutung auf den ‚inter‘, auf dem Zwischenbereich in all den Kategorien, die die philosophische Arbeit dieser AutorInnen umfasst. Ich schreibe dies so, denn es betrifft eine ganz Reihe von AutorInnen, die dem Feminismus zugetan sind und die nicht nur in inhaltlicher, sondern erstaunlicherweise auch in stilistischer Art zusammengehören. Dennoch bin ich der Auffassung, dass die AutorInnen im Grunde irgendwie Recht haben. Aber man müsste es vielleicht so sagen: Raum (Bildbezogenes, was ich auch ein Es ‚Strahlt‘ nenne) und Zeit (Wortbezogenes, was ich vereinfacht ein Es ‚Spricht‘ nenne) legieren sich, materialisieren oder atomisieren sich immer wieder neu und anders, meistens jedoch unbewusst. Die Menschen machen zwar selber die Geschichte, sagte schon Marx, aber sie machen sie unbewusst. Sie materialisieren sich und die Dinge fehlerhaft und unbewusst, anstatt dass sie ‚inter‘ sind, „interstehen“ und ‚inter-schreiben‘ und ‚-‚intersprechen.‘ Selbst in Psychoanalysen geben die Menschen oft ihre Angst nicht her, sondern halten sie im Unbewussten versteckt. Sie agieren nur‚ sie interagieren nicht.

Genau in diesem Sinne schreibt Byung-Chul Han über die heutige Situation: „Die Atomisierung des Lebens geht mit einer atomistischen Identität einher. Man hat nur sich selbst, das kleine ich. Man nimmt gleichsam radikal ab an Raum und Zeit, ja an Welt, an Mitsein. Die Weltarmut ist eine dyschronische Erscheinung. Sie lässt den Menschen auf seinen kleinen Körper zusammenschrumpfen, der er mit allen Mitteln gesund zu erhalten sucht. Sonst hat man ja gar nichts. Die Gesundheit seines fragilen Körpers ersetzt Welt und Gott. Nichts überdauert den Tod. So fällt es einem heute besonders schwer zu sterben.“[4] Man altert also, ohne reif und ohne fertig zu werden.

Ich würde die Raumzeitmaterialisierung eher eine Raumzeitverwicklichung und noch präziser eine Raumzeit-Signifikantisierung nennen. Denn wenn das Universum die Summe aller Signifikanten ist, wie Lacan es formuliert, dann verwirklichen sich Raum und Zeit eher in einer Kombination von Signifikanten als in einer Materiellen Kombination. So habe ich es auch von der Analytischen Psychokatharsis her schon beschrieben. Das Bild- und Wortbezogene, Schau- und Sprechtrieb, ‚Strahlt‘ und ‚Spricht‘ sind vom ersten Tag des Lebens an im menschlichen Subjekt legiert, kombiniert, verwoben, ‚verschränkt‘. Dabei existieren optimalere und weniger optimale Legierungen. Ich erstelle vier Kombinationsmöglichkeiten von beiden Bezogenheiten als jeweils plus und minus ersichtlich in der folgenden Abbildung.

Wenn im Spiegelstadium die imaginäre, jubilatorische Ich-Identität gefunden wird und diese durch die stützende Anwesenheit des Erwachsenen beruhigt ist, liegen auf beiden Seiten ein plus vor. Das ist aber beim Menschen selten so. Denn im Ich hat der Mensch ein falsches Bild von sich und lernt erst später, sich durch das Wort zu orientieren. So hat ja auch N. Bohr, den Barad so schätzt, betont, dass der Mensch ins Worthafte so verwickelt ist, dass er sich daraus nicht mehr befreien kann. Die anderen Plus- und Minuskombinationen zeigen die verschiedenen Gewichtungen an. Minus-Minus entspricht einer Störung in der Raumzeit-Realisierung bzw. Signifikantisierung und damit einem Problem der Grundidentität.

Es gibt also keine ‚Verschränkung‘ vom Ich zu einem anderen Ich oder einem Objekt, zu Stern oder Pflanze oder sonst etwas. Der von der Physik beanspruchte Begriff der Quantenverschränkung lässt sich nur auf dieser lokalen Ebene verstehen. Vielleicht kann man rein theoretisch heute am ehesten noch mit der ‚Stringtheorie‘ etwas anfangen. Die Strings sind ‚schwingende Saiten‘, die nicht mehr direkt aus Materie oder Energie bestehen. Sie könnten ideal auch als eine ‚Verschränkung‘ des Wort- und Bildbezogenen verstanden werden (siehe mein Buch, ‚Nach Lacan‘, BoD, (2014) Denn nur hier, zwischen Wahrnehmungs- und Sprechtrieb, mitten im Schicksalslogo, im Epigramm der Identität existiert die wahre ‚Verschränkung‘, da man sie nur hier verstehen, bearbeiten und so auch verändern und verbessern kann. Zwischen der Unbestimmtheit des ‚Strahlt‘ und der des ‚Spricht‘ erreicht die Verschränkungsmöglichkeit ihre Kulmination, da man nur hier mit dem ‚verschränkte‘ Schicksalslogo etwas anfangen kann. In allen anderen Bereichen kann man es nur abstrakt philosophisch oder esoterisch beschreiben.

Man könnte auch Glaube und Wissenschaft als Komplementärbereiche einordnen. Aber was hat man davon? Wie soll man sich entscheiden? Glaubt man, ist man von der Gnade Gottes abhängig, was am deutlichsten Luther formuliert hat. Weiß man, muss man das Wissen selbst verantworten. Aber heute haben wir die Psychoanalyse, und deswegen lohnt es sich heute Analytische Psychokatharsis zu lernen und sich die Gnade ein bisschen zu erschleichen und das Wissen selbst zu finden. Kurz: Man muss anfangen sich mit sich selbst zu ‚verschränken‘.



[1]Esfeld, M., Das Wesen der Natur, Spektrum der Wissenschaft, 6/11, S. 57

[2] Barad, K., Verschränkungen, Merve (2015)

[3] Zitiert nach Grahn, J., Really Reading Gertrude Stein (1989)

[4] Byung-Chul Han, Der Duft der Zeit, transcrpt (2015) S. 7