Augenscheinlichkeit und Traummalerei

„Das Subjekt“, sagt Lacan, „ist gespalten in zwei Formen des Sehens, in das Sehen, das auf dem Auge [bzw. dem Sehsystem] beruht und das Sehen, das sich auf den Blick gründet. Vom Licht-, Glanz- Spiegelungspunkt aus nimmt sich das menschliche Subjekt also selbstgespiegelt, ‚narzisstisch‘, wahr, es spiegelt sich im Glanz eines Lichtes, das freilich nichts mit dem physikalischen Licht zu tun hat. Es setzt uns kathartisch dem Es Strahlt aus, denn das befreiende, durchströmende Gefühl ist wichtig für die Authentizität. Ich nennen dies die erste Übung des selbsttherapeutischen Verfahrens (Analytische Psychokatharsis), wobei der ausufernde Blick vermieden wird, indem die besagten Formel-Worte

das Geschehen stützen und so im Griff wissenschaftlicher Sicherheit und in der Nähe der Singularität halten. Aber es gibt noch andere Zugänge zur Augenscheinlichkeit, nämlich so etwas wie die Traummalerei.

Lacan sagte, dass es die Traummalerei im Grunde genommen kaum gibt, da der Traum viel zu lebendig, gestückelt und meist nur schlecht erinnert ist. So zeigt diese Malerei auch meist nichts von dem, was Freud die ‚Vorstellungsrepräsentanz‘ nennt, also das Bild, das Gemälde, das die gerade im Moment wirkende Triebkraft perfekt darstellt und repräsentiert.[1] Ich habe jedoch einmal etwas erlebt, was man fast als eine ‚Vision‘ bezeichnen könnte. Aus einem Traum aufwachend nahm ich für kurze Zeit, vielleicht eine gute Sekunde, ein festes, also starr bleibendes Bild wahr, das mich irgendwie stark berührte.

Denn während der Traum rasch an einem vorbeizieht, ja taumelnd dahinrast, hatte dieses Verbleiben, dieses Insistieren eines wie ausgestellten Bildes, eine leicht betörende, anmutende Wirkung auf mich. Hier soll mir etwas gezeigt werden, hier wird nicht schnell das Traumprogramm durchgespielt, sondern etwas davon herausgehoben. Ich habe es – wenn auch künstlerisch ganz unprofessionell – noch am selben Tag gemalt (siehe Abb. nebenan). Eine gesicherte Aussage konnte ich trotzdem diesem Bild nicht entnehmen.

Ich hatte aber sofort den Eindruck, dass die weißen Bögen Blüten des Baumes waren, aber auch wolkige Zeichen von irgendwo außerhalb her. Mehr Seelisch-Geistiges (weiße Bögen)  und mehr Biologisch-Natürliches (Baum) sollten so verbunden gezeigt werden, dachte ich. Seltsam blieb es trotzdem, auch wenn mir danach die Diskussion Lacans um die ‚Vorstellungsrepräsentanz‘ einfiel, die eben die Triebkraft im Seelischen als solchem direkt repräsentiert.

Es kann in Form eines Affekts auftreten, der schnell ins Bewusste durchbricht und somit kaum je völlig verdrängt und unbewusst bleibt. Es kann aber auch in Form eines Wort-Klang-Bildes, also eines symbolischen Signifikanten, unbewusst und verdrängt bleiben oder in Form der Bild-Tableaus / Repräsentanz, also eines imaginären Signifikanten, wie traumgemalt, wie visionär, vermittelt sein. Um Freud gerecht zu werden könnten die weißen Bögen als Blüten auch eine sexuelle Metapher sein.

Lacan weist aber auch darauf hin, dass die Traummalerei leicht in die Richtung der psychopathologischen Kunst abdriften kann. Denn wenn das Bild wirklich die Triebkraft repräsentiert, kann es als Kunst und als Gewinn für die Menschen nur dann gelten, wenn es deren Schautrieb, deren Strahlt befriedigt, indem es gleichzeitig eine ‚Blickzähmung‘ ist, eine besänftigte, in den Grenzen der Kunst gehaltene Schaulust. Mein Bild könnte so die Grenze zur Psychopathologie zeigen, der ich jedoch gerade deswegen nicht verfallen bin, weil ich dem Bild keine gesicherte Aussage zugebilligt und das Grenzwertige, was man eine ‚Vision‘ nennen kann, demonstriert habe. Denn alles, was die Mystiker früher erlebt und auch gemalt oder gezeichnet haben (z. B. die Bilder der Heiligen Hildegard von Bingen), stammt aus diesem imaginären Signifikanten der Freud’schen ‚Vorstellungsrepräsentanz‘. Allerdings waren die Heiligen nicht verrückt, auch für sie waren diese Bilder, das Strahlt, nur Teil ihres Gesamtwerkes, das wesentlich aus ihren Schriften, aus dem Spricht besteht.



[1]  Lacan, J., Die vier Grundbegriffe der Psychoanalyse, Walter Verlag (1980) S. 117