Das Ding und die Sache

In seinem Seminar über die Ethik der Psychoanalyse sprach der französische Psychoanalytiker J. Lacan häufig über „das Ding“. Er benutzte ganz speziell das deutsche Wort, weil ihm der französische Begriff „la chose“ zu sachlich und nüchtern wirkte. Mit Sicherheit wollte Lacan auch ein bisschen an Kants „Ding an sich“ anschließen, auch wenn dieses „Ding“ wiederum zu hoch und idealistisch geraten war. Lacans „Ding“ sollte nicht das in der Psychoanalyse so wichtige verinnerlichte „Objekt“ sein, das in ganz spezifischer Weise und vielschichtigster Form  mit den Trieben, den erotisierten Kräften, verbunden ist. Es war nicht das Begehrensobjekt, es ging nicht um die über dieses verinnerlichte psychische „Objekt“ aufgebaute Beziehung. Aber was war dann „das Ding“?


„Das Ding“ ist auf jeden Fall nicht nur nicht das Objekt (auch nicht inneres psychisches Objekt) und auch nicht das bei Lacan wichtige „Reale“, das sozusagen das letzte harte „Bruchlose“ ist, das, wo die Menschen einer Zeit und einer Art nicht weiterkommen. Freud nannte es die „psychische Realität“ im Gegensatz zur rein äußerlichen Wirklichkeit. Im Deutschen könnte man vielleicht auch vom „Wirklichen als solchem“ sprechen. Ganz klar, dass sich hiervon, von diesen Realen „das Ding“ unterscheidet, das eher das unsichtbar Wirkende ist, das „Leere“, das aber eben doch wirkt. Das Reale ist ohne Riss, es ist ein Festes, Dunkles, aber  „das „Ding“ ist da, wo sich das Andere [das ganz Andere, eher Fremde] für das Subjekt unübersetzbar zeigt“, schreibt J. Bossinade (Theorie der Sublimation: Ein Schlüssel zur Psychoanalyse und zum Werk Kafkas, K&N, 2007).  Sie schreibt auch folgenden schwer verständlichen, wenn auch zutreffenden Satz: „Infolge des Auftritts des ‚prähistorischen Anderen‘[gemeint ist eine Art frühzeitlichster Vaterfigur, Gott oder Urahn] erfährt das menschliche Subjekt eine ‚Distanz‘, durch die es sich von einem unmittelbaren Zustand [nämlich dem „Ding“]entfremdet‘. So kann das Subjekt diesen unmittelbaren Zustand nachträglich nur noch als bruchloses Reales bzw. als geschlossenen Mutterleib imaginieren“. Eine Rückkehr ist also nicht mehr möglich, weder in den psychisch so stark nachwirkenden Mutterleib noch ins Paradies, aber „das Ding“ bleibt einem als Leere und Sublimation (Verfeinerung von Triebregungen in Richtung Kultur, Kunst, Religion und anderes)  erhalten. Es ist nicht Nichts, sondern ein starkes aber unbestimmtes Etwas.


Man kann diese Geschichte vom "Ding" und der Sache einfacher erzählen, wie es etwa der australische Psychoanalytiker N. Sygminton tut: zwischen den Menschen gibt es eine Art ur-soziales, psycho-physisches Band, das  er die „Thathood“, die „Dasheit“  nennt. Auch in einer fremden Stadt sprechen wir jemanden wegen einer Straße an und können sicher sein, dass er uns darauf antwortet wie es unser Nachbar zu Hause tut. Es gibt so etwas wie ein Urvertrauen, das wir auch zu uns selbst haben. Es gibt ein „Das“, ein „Ding“ zwischen uns allen, das sozusagen ganz leicht positiv getönt ist und für eine primäre Verbindlichkeit sorgt. So nimmt auch das Kind während es bei den Eltern aufwächst, dieses „Ding“ zwischen ihnen wahr – auch wenn diese davon gar nichts wissen und dazu tun -  und hält sich damit in einer gewissen positiven Schwebe. In dem Moment, wo die Eltern sich jedoch beispielweise trennen, scheiden lassen oder gewalttätig auseinandersetzen, bricht dieses „Ding“ für das Kind zusammen. In dem Moment wo der Andere auf der Straße sich als Krimineller erweist, ist kein „Ding“ mehr da. Missbrauch und Verbrechen erschüttern „das Ding“ bis ins Mark. Das Kind erkrankt nicht über den Verlust seiner Mutter oder dem Mangel an Mutterliebe wie man so oft sagt, sondern weil das „Ding“ verloren gegangen ist. Die Gesellschaft zerbricht nicht an Verbrechen, sondern nur dann, wenn diese so geartet sind, dass die "Dasheit" nicht mehr existiert.


Ich hatte einmal eine Patientin, die mir erzählte, dass bei ihr im Alter von sechs oder sieben Jahren plötzlich das „Licht“ weggewesen sei. Auf einmal fehlte der Glanz. Es hat sich um das „Ding“ gehandelt, die alles mit einem leichten Glanz überzogen hatte, wie es ja oft typisch für die Kindheit ist. Plötzlich war alles so farblos und nüchtern geworden, und als Kind war sie noch nicht so in der Lage gewesen, das verlorengegangene „Licht“ durch sublimierende Tätigkeiten zu ersetzen. Wir verlieren meist alle dieses „Ding“ schon in der frühesten Zeit und müssen uns dann abmühen, es durch andere Verbindlichkeiten, gute Taten oder sonstige Leistungen und Genüsse zu ersetzen. Die Patientin hat ihr „Licht“, ihr „Ding“ nicht wiedergefunden. Trotzt längerer analytischer Psychotherapie war dieser beseligende Zustand nicht mehr herzustellen. Natürlich hing es bei ihr auch damit zusammen, dass sie gewisse Reifeschritte nicht gehen wollte, dass sie zu nostalgisch in die Vergangenheit blickte und mit Hals-über-Kopf-Beziehungen, mit Süchten und Ablenkungen versuchte, sich über den Verlust des „Dings“ hinweg zu helfen.

In Primärkulturen hat man jedoch noch manchmal des Gefühl, dass die Menschen ihr „Ding“ über viele Jahre hinaus bewahren können. Bei meinem Studium und der Beschäftigung mit Yoga und Meditation kannte ich einen Lehrer, der eine ganz leichte hypomanische Grundstimmung besaß, die auf andere ausstrahlen konnte. Er erzählte die Geschichte, wie er als junger Mann bei ziemlicher Kälte im Zug von seinem Gegenüber eine Decke aufgedrängt bekam. Doch nach einiger Zeit gab es sie wieder zurück. Er fror mehr als zuvor, denn wenn er ganz innig bei sich war – so sagte er, hatte er nicht das Gefühl zu frieren. Die Decke und die ablenkende Vermittlung mit seinem Gegenüber hatte sein „Ding“ geschwächt. Er praktizierte jedoch einen Laya-Yoga und war auch als vergleichender Religionswissenschaftler intellektuell tätig. Dennoch konnte er „das Ding“ nur mit viel Mühe in dieser hypomanischen Höhe halten, denn viele Menschen scharten sich um ihn und er musste sich mit ihren Ansprüchen recht angestrengt auseinandersetzen.


Ich kann natürlich das „Ding“ durch mein Schreiben, das eine ganz einfache Sache ist, auch nicht ganz vermitteln. Auch die intensivsten Gefühle können das nicht vermitteln und auch nicht die brillanteste Intellektualität. Aber ich habe ein Verfahren gefunden, mit dem man sich dem „Ding“ nähern kann. Wenigstens kann man eine Erfahrung davon haben und diese immer wieder etwas beleben. Dieses Verfahren führt nicht zu der angenehmen, leichten Hypomanie, die der oben zitierte Yogi einen „Nirvikalpi-Samadhi“ nannte. Das sollte heißen, einen immerwährenden Glückszustand, während der sogenannte „Sarvikalpi-Samadhi“ nur unterbrochene Glückszustände vermittelt. Ich kann mit meiner Methode also nur diesen letzten Zustand ermöglichen. Aber immerhin. Wir leben eben nicht mehr in einer Primärkultur oder sind voll und ganz im indischen Laya-Yoga zu Hause. Dafür können wir unser Leben durch andere Umstände besser gestalten. Wir können interessante und gute Berufe haben, ausgewogene Ernährung, Bildung und Kultur, Beziehungen, Bindungen und vieles andere mehr, was zwar nicht eine dauerhafte Hypomanie, aber doch gute Gefühle erzeugt. Wenn dann dazu noch ein bisschen „Sarvikalpi-Samadhi“ kommt – ich nenne es Psychokatharsis – die gleichzeitig analytisch gewonnene Einsicht fördert – ich stütze mich hierbei auf die Psychoanalyse, speziell die J. Lacans – könnte „das Ding“ fast wieder greifbar nahe sein. Informationen über die Methode, dem "Ding" doch wieder näher zu kommen, finden sich auf dieser Webseite zu Genüge.

In dem gerade oben erwähnten und von mir gefundenen Verfahren spielen die Topologie (Gummi-Geometrie, in der geometrische Gebilde stark verformt doch immer noch Linien- und Flächengesetzen gehorchen) und Wortwurzeln, sprachliche Grundelemente, fast könnte man sagen „Rätselworte“ eine große Rolle. Ich habe dies an vielen anderen Stellen ausführlich besprochen, so dass ich hier einen anderen Versuch der Darstellung machen will. Ich versuche das „Ding“, das in dem besagten Verfahren eben aus einer topologischen und linguistischen Mixtur besteht rein bildlich zu zeigen. Die Topologie eines mehrfach ineinander gewobenen Torus ist hieretwas  künstlerisch verbrämt und mit Buchstaben versehen. Würde man den in diesem Gebilde enthaltenen topologischen Linien folgend die Buchstaben lesen, kämen je nach Lesebeginn immer wieder andere Bedeutungen heraus. Genau so etwas beinhaltet das „Ding“, will man es wenigstens vom Grund her erfahren.