Geschichte und Hintergrundtherapie

In der Zeit um 1500 begannen der Aufstieg M. Luthers und die ihn umgebenden Konflikte. Nicht nur mit seinen Gegnern dem Kaiser und der katholischen Kirche, auch mit seinem ursprünglichen Protektor Erasmus von Rotterdam kam es zum Streit. Andererseits hatte schon Jan Huss hundert Jahre vorher die Perversionen der Kirche (Macht, Geld und Völlerei) gegeißelt, eine Reform war also schon dringend notwendig geworden und der Boden für Luthers Werk schon bereitet.  Dennoch hatten sich auf dem Reichstag zu Augsburg 1530 die Konfessionen auf ein gemeinsames Bekenntnis geeinigt. Aber es kam ganz anders. Bauernkriege und schließlich der 30-järige Krieg ließen hunderttausende von Menschen auf bestialische Weise umkommen, und heute fragt man sich, was davon geblieben ist: nämlich nichts. Die Kirchen leben fast unterschiedslos nebeneinanderher so wie es auch die großen bürgerlichen Parteien tun, deren Programme sich mehr oder weniger gleichen. Was kann uns die Geschichte eigentlich lehren?


Nichts. Im zweiten Weltkrieg kam alles noch schlimmer und in entsetzlicheren und größeren Ausmaßen. Danach haben wir uns im Antifaschismus geübt und im Prosemitismus. Doch heute ist alles schon wieder vergessen, der Antisemitismus nimmt weltweit wieder zu, nicht zuletzt weil die Regierung in Israel selbst dazu beiträgt. In meinem Buch „Politik / Therapie“ habe ich diese Zeitspanne etwas aufzuarbeiten versucht und vor allem dafür plädiert, nur noch Therapeuten zu Politikern zu machen, weil es sonst nie anders werden wird als dass mit Gift und Galle, mit Drohungen und Waffen, mit Umweltzerstörung und Psychoterror das Gleiche fortgesetzt wird, was man vorher rein militärisch hat verunglücken lassen. Doch so einfach ist es natürlich nicht Politiker zu einsichtigen, einfühlsamen und intelligenten Leuten zu machen.


Denn die Historie ist ja nur die Geschichte der Geschichte. Die Astrophysiker sprechen hier von der Hintergrundstrahlung.  Es handelt sich dabei um das, was man vom Ursprung des Universums wahrnehmen kann.  Den Urknall hat niemand gehört und es wird ihn auch niemand hören. Denn es fängt mit dem Hintergrund an, dem astrophysikalischen genauso wie dem geschichtlichen oder dem psychoanalytischen. Für Lacan beginnt des Reale mit einem Loch, einer Lücke, aber die hat ja einen Rand, die Hintergrundlinie. All das, was wir über Geschichte wissen, ist nur der Hintergrund, vor dem sich alles abgespielt hat. Wir müssen davon ausgehen, dass das alles ziemlich schrecklich war. Bekanntlich bauten ja sowohl Augustinuns, Hus und auch Luther ihre Lehren auf dem Prädestinationsgedanken auf. Alles ist durch Gott vorherbestimmt und nur durch seine Gnade bewirkt, auch die Heraushebung einzelner Seelen. Der Begriff „Gnade“ in diesem absolutistischen Sinne  ist für die meisten Menschen heute nicht mehr nachvollziehbar. Wissenschaften und Technik haben uns so viel Selbst-Machbarkeit ermöglicht, dass man hier wohl kaum noch Gnade wirken sehen kann.

Trotzdem gibt es natürlich reichlich Prädestination.
So sind Neurowissenschaftler heute noch fasziniert von den Forschungen B. Libets, der Handlungsimpulse im Gehirn gemessen hat, einige Zeit bevor es zur wirklichen Handlung kam. Fazit: unser Gehirn prädestinieret unsere Handlungen. Doch Libet meinte, dass man die Handlungen wenigstens bewusst unterdrücken kann, bevor die Impulse ganz hoch gekommen sind. Aber so etwas hat hundert Jahre vorher auch schon Freud postuliert. Die eigentlichen Motivatoren sind die Triebe. Wir können sie jedoch sublimieren zu Kultur- und Arbeitsleistungen. Damit ist wieder alles offen, und der Hintergrund ist klar: denn die Triebe sind ja genauso wie Gott und das Gehirn gar nicht immer so negativ oder böse. Lacan hat als Haupttriebe den Wahrnehmungstrieb und den Sprechtrieb herausgearbeitet und diese beiden muss man ja nun wirklich nicht dauernd unterdrücken. Man muss sie auch nicht ganz der Gnade Gottes anheimstellen. Gewiss muss man sie etwas sublimieren, denn manche Menschen sprechen vorwiegend mit den Fäusten. Die beste Regulation gelingt, wenn man sie da nutzt, wo und wie sie kombiniert sind. Dazu muss man sie in einer möglichst knappen, formalen Form angehen. D. h. man muss ein Regulatorium haben, dass ihre Kombination in einer knappen, formalen Weise so zur Verfügung stellt wie es ein Fleischwolf für die Masse tut, die man in ihn hineingibt: ihrer Art entsprechend als einzelne Stränge geordnet und sortiert herausgebend.
Für die Christenmenschen früherer Jahrhunderte war dieser Fleischwolf die Bibel.

Doch ist die Bibel kein fairer Fleischwolf mehr. In ihr sind die Stränge schon vorsortiert durch den Zeitgeist, die Kultur und Sprache früherer Jahrhunderte. Und auch die Astrophysiker sortieren hier schon etwas vor, indem sie den Hintergrund in Form einer physikalischen Strahlung im Mikrowellenbereich als wesentlich für den davor liegenden Urknall postulieren. Es ist jedoch die Frage, ob nicht schon die Inflationstheorie des Universums (plötzliche Ausdehnung und wieder Zusammenfall des Kosmos) den Hintergrund besser erklärt. Und für die Neurowissenschaftler und die Psychoanalytiker ist eben eine Theorie, wie sie Lacan konzipiert hat, wahrscheinlich der bessere Hintergrund: Rand einer gähnenden Leere, die genannte Triebkombination oder der „linguistische Kristall“ wie ich die Formel-Worte der Analytischen Psychokatharsis nenne, die ich als neueres und moderneres Verfahren zur Hintergrunderleuchtung eingeführt habe (www.analytic-psychocatharis.com).

Es ist ein Verfahren für die heutige Zeit und die heutige Welt. Niemand kann für alle Zeiten und Welten gültige Verfahren der Hintergrunderforschung aufstellen. Die Triebkombination muss nicht Triebschicksal sein, wie Freud noch fast ein bisschen negativ argumentierte. Aber sicher wird ein Mensch einer Zeit und einer Welt einer weiter entwickelten, besser sublimierten und optimaleren Triebkombination dieses sein Ergebnis auf andere, gar seinen Nachfolger in toto Übertragen können. Die nächsten müssen wieder ziemlich weit unten neu anfangen und zu neuen Höhen kommen. Christus konnte nur für seine Zeit und seine Leute das bewirken, was er tat. Luther konnte sich nicht in einer direkten Weise auf ihn stützen, also etwa, dass die göttliche Gnade ihn auserwählt habe. Das ist nach heutiger Auffassung nicht von einer Selbstverherrlichung zu unterscheiden. Wie E. Erikson in seinem Buch „Der junge Mann Luther“ schreibt, ist Luther von seiner in der Kindheit und Jugend entwickelten Triebkombination dazu geführt worden, den Weg des Reformators zu gehen.


Und so werden meines Erachtens nach auch die heutigen Astrophysiker durch neue, das menschliche Subjekt mehr einbeziehende String-Theoretiker abgelöst werden, wie ich in meinem Buch „Nach Lacan“ glaube plausibel gemacht zu haben. Und auch die Neurowissenschaftler werden sich um subjektbezogene Theorien bemühen müssen, weil das ausschließliche  universitäre immer Mehr-und-mehr-Wissen, das reine savoire pour savoire, nicht mehr ausreichen wird, um uns zu erklären. Es muss eine Möglichkeit geben, wo jeder selbst seine Hintergrunderfahrung wissenschaftlich exakt machen kann, wo jeder selbst mit Gott reden oder sich als das eigentliche Zentrum der Geschichte erfahren kann. Das ist das Mindeste, was möglich sein muss.