Anamnesis - individuelle und überindividuelle Erinnerung

Platonische Erinnerung und psychoanalytische Übertragungs-Deutung
In den von Platon aufgezeichneten Dialogen des Sokrates spielte die Anamnesis, die Erinnerung oder besser noch: die Wiedererinnerung eine große Rolle. Die Geburt war nur ein Auftauchen aus einem totalen Vergessen und der Tod wieder ein Eintauchen in ein solches. Interessanter Weise finden wir etwas Ähnliches in der Psychoanalyse wieder. Hier geht es zwar nicht so unmittelbar um Geburt und Tod, sondern um die frühen Jahre der Kindheit. In den meisten wissenschaftlichen Veröffentlichungen zu diesem Thema finden sich Argumente, die eine größere Ähnlichkeit der Psychoanalyse mit Platons Theorie jedoch bestreiten. Trotzdem: das was an beiden Auffassungen, der platonischen wie der psychoanalytischen gleich ist, ist nicht gering und für meine Arbeit sogar förderlich und wichtig.

Der Philosoph Hegel widersprach der These von der Anamnesis, „in-soweit sie als Reproduktion einer Vorstellung, die man schon früher hatte, aufgefasst wird. Er akzeptierte sie aber in dem Sinne, dass der Geist, der das Allgemeine (die Gattung) erfasst, nicht etwas Fremdes, Äußerliches aufnimmt, sondern in sich geht und zum Bewusstsein seines Inneren, seines eigenen Wesens gelangt. Das sei eine „Erinnerung“ in einem mehr etymologischen Sinne: "Sich-innerlich-machen, In-Sich-Gehen; dies ist der tiefe Gedankensinn des Worts.“ Man sieht bereits hieraus, was also Platon und Freud verbindet. Denn der Patient in der Psychoanalyse muss frei assoziieren, spontan alle Einfälle äußern, um eben auf diese Weise auf etwas zu stoßen, was er in sich schon als Wissen, als Bekanntes vorfindet und was ihm dann bei seiner Heilung hilft. Man muss dem Patienten bei seiner Anamnesis helfen, er muss wiedererinnern, was er verdrängt hat.

Auch Sokrates ging davon aus, dass der Mensch durch einen Lehrer oder Wissenden eine Anregung, einen Anstoß oder Ähnliches erfahren muss, um in sich plötzlich das zeitlose Wissen, dass die Seele als körperloses Allwesens schon vor der Geburt in sich hatte, wieder zu entdecken, wieder zu erinnern. In Platons Schrift „Menon“ zeigt Sokrates, wie selbst ein wenig intelligenter Sklave – leitet man ihn nur etwas an – die höher mathematischen Wahrheiten wieder erinnert. Ahnungslos wie er ist, glaubt der Sklave zuerst, dass man, um ein Quadrat zu verdoppeln, die Seite desselbigen verdoppelt. Nach kurzer Anweisung kommt er darauf, dass es die Hypotenuse ist, die man mit zwei multiplizieren muss, um die zweifache Fläche eines Quadrats zu erhalten. Somit ist sicherlich die Wiedererinnerung bei Platon eine von universellen allgemeingültigen – fast könnte man eben auch sagen: mathematischen, göttlichen – Wahrheiten, während in einer Psychoanalyse nur die individuellen Wahrheiten herauskommen, die ein Mensch besonders in den Jahren der frühen Kindheit zu verdrängen gelernt hat. Bei Platon hängt die Anamnesis auch mit Seelenwanderung und Wiedergeburt zusammen, während wir dies in der Psychoanalyse für mythisch-mystisch halten und als unwissenschaftlich ablehnen würden.

Dennoch ist aber das von Hegel betonte „In-Sich-Gehen“ doch beiden Auffassungen gemeinsam.  In den Anfängen der Psychoanalyse haben einige Autoren auch von sogenannten „kollektiven Unbewussten“ gesprochen und der Ägyptologe J. Assmann postulierte ein „kulturelles Gedächtnis“ als ebenso eine Möglichkeit zur überindividuellen Erinne-rung. Im Yoga und in der Anthroposophie R. Steiners wird sogar von einer Akasha-Chronik gesprochen, in der alles schon aufgezeichnet ist, was sich ereignen kann, man muss sich also nur daran erinnern, wie man das alles lesen kann. Auch fanatische Humangenetiker verkünden, dass alles genetisch vorprogrammiert ist und nur von der DANN noch abgelesen werden muss, was man eben nicht anders erinnern kann. Ich habe in meinem Verfahren der Analytischen Psychokatharsis einen Mittelweg gefunden, in dem individuelles Wissen aus den Erfahrungen der frühen Kindheit sich mit der überindividuellen Anamnesis verbinden kann. Dieser Weg erinnert auch an Methoden, die bereits von den Psychoanalytikern S. Ferenczi und L. Szondi bearbeitet wurden.

Ferenczi begründete eine „Bioanalyse“, indem er behauptete, der Mensch könne durch Psychoanalyse angeleitet zu triebbezogenen Strukturen zurückkehren, wie sie in vorevolutionären Phasen biologisch üblich waren. Wie eine Eidechse in Gefahr ihren Schwanz von sich abtrennen kann (Autotomie), genau so könne ein Mensch psycho-physische Teile, ja Organe in sich stilllegen. Trotz dieser theoretischen Bereicherung der Psychoanalyse, war deren praktischer Effekt gleich null. Ferenczi musste aktiv in das analytische Vorgehen intervenieren, um solche vorevolutionären Erfahrungen sichtbar zu machen. Ja, er legte sich selbst auf die Couch und ließ den Patienten am Therapeutensessel Platz nehmen (mutuelle Analyse), um effektvoller zu werden. Doch viel halfen all diese Maßnahmen nicht. Seine Schriften sind dennoch interessant und haben wohl einen versteckten wahren Kern.

Schicksalsanalyse, Schicksalsdiagramme und Analytische Psychokatharsis
L. Szondi, auch er Psychoanalytiker, entwickelte eine „Schicksalsanalyse“, eine Art psychoanalytischer Mehrgenerationenperspektive. Das familiäre Unbewusste sollte ein unsichtbares Band bilden, „das alle Familienmitglieder vertikal, über Generationen hinweg, an den ‚Stromkreis der Ahnen‘ anschließt. Es verbindet aber auch horizontal die noch lebenden Mitglieder einer Familie. Durch die vertikalen und horizontalen Verbindungen bilden die Familienmitglieder ein affektiv hoch besetztes Netzwerk. Die Schicksalsanalyse betrachtet den einzelnen Menschen nicht als isoliertes Individuum, sondern eingebettet in den sichtbaren und unsichtbaren, das ganze Leben begleitenden Kontext von Herkunftsfamilie und Anverwandtschaft. In der Mehrgenerationenper-spektive Szondis werden Verstrickungen, Erwartungen, Verdienste, Schulden, Loyalitätsverpflichtungen, aber auch Ressourcen und Stärken erkennbar, die sich über Generationen hinziehen.“

Natürlich war es auch hier so, dass für die praktische psychoanalytische Arbeit nicht viel mehr heraussprang, als es Freud mit seiner frei assoziativen und aus schwebender Aufmerksamkeit heraus deutender Therapie vermochte. Szondis Schicksalsdiagnostik (und das danach erstellte Schicksalsdiagramm) klingt nach Astrologie und Wahrsagerei. Interessant ist jedoch, dass Szondi sein schicksalsanalytisches Vorgehen auf Grund von Gedanken des Linguistikers C. Abel als eine „Ursprache betrachtete, indem in dieser „Gegensätze zu einer Einheit und Ganzheit zusammengespannt werden.“ Diese „Ursprache zeichne sich auch dadurch aus, dass in ihr  “Worte mit polar entgegengesetzten Bedeutungen” oder  Komposita, “in denen zwei Vokabeln von einsinniger, aber einander widersprechender Bedeutung vereint werden.”2  Damit kann ich nämlich ideal an die Psychoanalyse J. Lacans und auch wieder an mein Verfahren der Analytischen Psychokatharsis anknüpfen.

In diesem Verfahren liegt der Schwerpunkt nämlich auf Praxis und Theorie gleichermaßen und ist sehr stark auf die Arbeiten J. Lacans bezogen. Auch Lacan hatte mit dem der Linguistik entnommenen Begriff der Signifikanten einen Bezug zu einer Art vom „Ursprache“ ge-schaffen, er hat sie jedoch anders genannt und konzipiert. Schon für den Sprachwissenschaftler F. de Saussure waren die Signifikanten ein sprach-lautlicher „Prozess von Gegensätzen“, den die Psychoanalytikerin D. Birksted-Breen als  "Widerhalleffekte", als seelische Echovorgänge beschrieb, indem zwischen dem Reverie-Geplapper der Mutter und eben den "widerhallenden" Antworten des Kindes eine erste gemeinsame Identität entsteht.  Es findet also eine erste Hall –Widerhall, ein Anklang / Widerhall oder eine Signifikanten-Kombination statt, die noch keine ausgereifte Sprache darstellt, dennoch aber schon symbolische Grundlage hat. Und noch dazu: diese Grundlage ist auch real! Es verlautet etwas, und in diesem Hin und Her der Verlautungen entsteht ein erstes Identitätsgefühl zwischen Mutter und Kind. Ja mehr noch, es entsteht ein Identitätsklang, eine Art eines ersten Losungswortes, wenn es auch vorerst nur Klänge, Laute und Vokale sind, aus denen dieses Wort-Klang-Widerhall-Geschehen besteht.

Aber sind wir hier nicht bei der „Ursprache“? Der Begriff „Ursprache“ ist sicher wissenschaftlich nicht exakt, aber doch fürs Erste ganz gut verständlich. Doch das Wichtige ist nunmehr nicht nur die theoriegeleitete Begründung dieser Signifikanten – Kombinationen einer „Ursprache“, die bei Szondi dann auch noch definitive Zuschreibungen in Form von genetischen, physiognomischen, triebbezogenen Schicksalshexagrammen und Ähnlichen mehr aufweisen, sondern die reale Praxis. Der Betreffende selbst, der Patient oder Adept oder Protagonist ist es doch, der die „Ursprache“ selber generieren soll und nicht wieder in Tabellen von Archetypen (wie bei C. G. Jung) oder Schicksalsrunen vorgesetzt und vorgezeichnet bekommen muss. „Ein Signifikant ist Subjekt für einen anderen Signifikanten,“ schreibt Lacan, was heißt, dass der Mensch, das menschliche Subjekt zwischen zwei solchen „Schicksalsrunen“ wie man die Signifikanten auch ganz gut nennen könnte, steht und selber, von sich aus, von seinen eigenen Tiefen oder Höhen her, das wirkliche Lautsystem artikulieren kann, muss und wird.

In der Analytischen Psychokatharsis wird das „Schicksalsdiagramm“, das tatsächlich individuelle und überindividuelle Aspekte vereint in kreisgeschriebenen, der lateinischen Sprache entstammenden Formel-Worten vermittelt. Ich verweise dazu auf andere Artikel auf meiner Webseite und stelle nur rein schematisch hier ein Bild einer derartigen Formel-Wort-Schreibung daneben. Im Lateinischen ist hier fast von jedem Buchstaben aus gelesen eine andere Bedeutung (wie bei Szondi „polar entgegengesetzt“) heraus zu hören. Auf jeden Fall kann man psychoanalytisch begründet derartige „Widerhalleffekte“, Buchstaben-folgen selbst meditieren und so aus sich selbst entstehende Identitäts- bzw. Pass-Worte sich entwickeln lassen. Damit ist die Anamnesis dem Auf und Ab von Entstehen und Vergehen entrissen und in ein neues Gedächtnis integriert. Alle festen Zuschreibungen, Direktiven und manipulative Interventionen wie sie selbst in analytischen Therapien vorkommen, sind vermieden. Denn diese Methoden vermitteln, dass der Signifikant dem Signifikanten direkt antworten kann, anstatt zu sehen, dass die Signifikanten durch den Zustand des Subjekts in einer Unschärferelation belassen sind.

Dazu ein Beispiel aus der Psychoanalyse. Die Psychoanalytikerin A. Winkler-Sperling kommentiert eine mehr oder weniger misslungene Psychoanalyse, die sich über mehr als zehn Jahre hinzog.  Für den Patienten, einen Herrn B., brach nach etlicher Zeit der Therapie „die Welt zusammen“. Dies war aber – sagt Winkler-Sperling - für die behandelnde Analytikerin „kein Anlass über mögliche Fehler nachzudenken. . . die Analytikerin bemerkt zwar, dass der Patient einmal wütend und isoliert klang, sieht aber darin keinen Zusammenhang mit ihrem Vorgehen.“ Herr B. wird schließlich mehr und mehr „überrumpelt“, die Analytikerin deutet, dass „er vielleicht ihre Potenz hasse“, doch damit setzt sie sich noch mehr über ihn hinweg, denn es bleibt völlig unklar, woher sie plötzlich diese potente Macht hat und so folgen noch zahlreiche weitere übergriffige Deutungen, die den Patienten schließlich „freudlos“ aus der Therapie gehen lassen. Die Analytikerin fragt sich am Ende, ob nicht eine andere analytische Schulrichtung besser für Herrn B. gewesen wäre, anstatt ihre eigenen Fehlinterpretationen zu erkennen. „Die Gefahr, dass bei solchem Vorgehen der Bezug zum realen Patienten verloren geht, ist groß,“ schreibt Winkler-Sperling zum Schluss.

Es war also nicht „Ursprache“, die hier stattfand, sondern Aneinander-vorbeireden. Die klassische Psychoanalyse ist oft zu umständlich und langwierig und es gibt entsetzliche Sackgassen. Bei Szondi konnte man also lesen, dass die „Ursprache“ aus Worten polar entgegengesetzter, ja widersprechender Bedeutungen besteht. Hier steht tatsächlich ein Signifikant „ursprachlich“ präzise einem anderen diametral gegenüber. In der Analytischen Psychokatharsis wird dies nun - wie angedeutet –benutzt, um selbst meditierend eine eigene Bedeutung heraus zu entwickeln und zu erfahren. Wenn man schon von „Ursprache“ redet oder „präzisen sprachlichen“ Umgang fordert,  sollte es doch der Patient, der Protagonist selbst sein, der solches hervorbringen kann. Wie dies in der Analytischen Psychokatharsis geht, bringe ich der Kürze halber hier nur in einem Beispiel, da ich in anderen Artikeln genügend darüber theoretisiert habe. Eine Person, die die Analytische Psychokatharsis schon seit längerem übte, vernahm plötzlich den Gedanken: „Nase sein“!

Nun ist eine solche „ultrareduzierte Phrase“ wie Lacan dies auch nennt, für das Unbewusste typisch. Aber was sollte es bedeuten? Die meisten Menschen, denen ich später von diesem „Nase sein“ erzählte, hatten die Assoziation, dass es etwa bedeuten würde, man solle eine Spürnase haben, einen guten „Riecher“ im übertragenen Sinn. Diese Assoziation hatte auch die betreffende übende Person selbst. Doch dies war – so scheint mir – die mehr überindividuelle Anamnesis. Es war die Zeit der weltweiten Finanzkrise und da passte es schon dazu, dass man eine Spürnase dafür haben sollte, wie man sein Geld anlegt. Nun ist dies nichts Besonderes. Das hätte einer einem auch so sagen können. Trotzdem war es für den Betreffenden ein origineller Ausdruck, denn „Nase sein“ heißt ja nicht nur eine haben, sondern sogar mit einer solchen identifiziert sein. So sehr dieser aus dem Unbewussten auftauchende Gedanke den Übenden auch überraschte und ihm ein kathartisches Gefühl verschaffte, so sehr hatte er aber auch eine analytische Bedeutung.

„Nase sein“ war für ihn auch etwas Intimes. Den anderen riechen, weil man nur noch aus dem dazu nötigen Organ besteht, erweckte bei ihm heftige Anti- und Sympathien. Gedanken an Hass und Erotik kamen auf und auch die Assoziation, dass seine Mutter eine sehr große Nase besessen hatte, was ihn sein Leben lang gestört habe ohne dass er es irgendwann irgendjemandem gegenüber einmal hätte ansprechen können. Ich führe rein psychoanalytische Gedankenzüge hier nicht weiter an. Dem Betreffenden konnte viel mit dem vermittelt werden, was aus diesem mehr individuellen Bereich der Anamnesis stammte. Aber für meine Betrachtung der Erinnerungstechniken und –formen ist es nicht wichtig. Ich wende mich daher nochmals mehr den überindividuellen Erinnerungen zu.

Denn das „Nase sein“ hatte für meinen Patienten und Übenden noch eine andere Verwendung. Er litt seit langem an einer Neuralgie im Oberkiefer-Nasenwurzelbereich. Keine schlimme aber doch seit vielen Jahren lästige Erkrankung. Nun könnte man sagen, auch dieses Symptom ist psychisch, psychosomatisch bedingt und somit vielleicht einer Psychoanalyse zugänglich. Wenn es jedoch schon jahrelang so fixiert ist, hat es sicher auch eine neurologische Grundlage, nämlich Reizungen, Entladungen von Nerven im Stamm- und Mittelhirnbereich, die man heute sehr gut mit Medikamenten aus der Reihe antiepileptischer Mittel behandeln kann. Man spricht von atypischen Gesichtsneuralgien und therapiert sie z. B. mit Carbamazepin. Man ist jedoch dann lebens-lang auf solche Arzneien angewiesen.

Nun ist die Psychoanalyse mit mehr psychosomatischen Erkrankungen ohnehin oft überfordert. Krankheiten, die dann zudem noch neurologisch oder vom psychiatrischen Krankheits-Spektrum her mitbedingt sind, kann die Psychoanalyse nicht mehr bewältigen. Hier könnte die Bio- oder die Schicksalsanalyse vielleicht mehr helfen, wären beide Methoden - wie beschrieben -  aus anderen, vielschichtigen Gründen, ebenfalls nicht so geeignet. Grundsätzlich ist ja der Körper etwas Über-individuelles, wenn auch nicht im Geistig-Kulturellen oder gar Religiösen, so eben doch im Physischen, das wir heutzutage bis in die feinsten Moleküle hinein erfassen können. Nicht umsonst fasziniert uns die moderne Medizin mit ständigen Neuigkeiten der Erkenntnisse und Behandlungen. Die gerade erwähnten neurologisch wirkenden Medikamente sind zweifellos sehr wirksam. Es betrifft höchstens ihre Nebenwirkungen und Anhängigkeiten, die stören.

Der genannte Patient hatte beim weiteren Üben mit der Analytischen Psychokatharsis jedoch auch ohne Medikamente eine Verbesserung seiner meist mehr rechtsseitigen Kiefer-Nasen-Beschwerden erreicht. Er berichtete, wie er beobachten konnte, dass sich der Schmerz bzw. Druck im Kiefer-Nasen-Bereich etwas nach unten und zur linken Seite hin verschob. Diese Verlagerung seiner Beschwerden war natürlich noch keine Heilung, aber doch eine deutliche Erleichterung für ihn. Jeder, der chronische Schmerzen immer an der gleichen Stelle – etwa den gleichen Gelenken – hat, wird bestätigen, dass eine Verschiebung und eine damit auch meist verbundene  leichte Verminderung seiner Beschwerden schon viel wert sein kann. Bekanntlich zwicken sich viele Menschen beim vom Zahnarzt verursachten Schmerzen irgendwo anders hin, um durch eine solche Umverteilung – selbst bei dadurch zusätzlichem Schmerz – mehr Schmerzerträglichkeit an der Hauptschmerzstelle zu erreichen. 

Psychoanalytisch würde man von einer Libido-Umverteilung sprechen. Durch vieles aber auch durch Aggression kann Libido umverteilt wer-den, Freud selbst erwähnte dies bei fieberhaften Krankheiten. Das Fieber, aber eher wohl die zugrunde liegende Entzündung, verteilt die psycho-somatisch ausgebreitete und meist eben fixierte Libido in neue Bahnen oder Besetzungsorte um. Wie gesagt ist dies keine Heilung. Diese würde psychoanalytisch erst hergestellt, wenn durch eine leichte Umverteilung der Libido, wie sie ja schon durch die Übertragung auf den Analytiker stattfindet, eine weitere Bearbeitung durch freie Assoziation und Deutung der Übertragung ermöglicht wird und weiter in Gang kommt. Dies tat der Patient ja auch mit der oben geschilderten mehr klassisch analytischen Erinnerungsmethode.  Der übende Patient berichtete mir später jedoch nochmals, dass er das Gefühl habe und der festen Überzeugung sei, er würde mit dem Fortschreiten in der Analytischen Psychokatharsis die Beschwerdestelle im Kiefer-Nasenwurzel-Bereich so weit verschieben und umverteilen können, dass diese Störungen ganz verschwinden und ihn für erweiterte Aufgaben evtl. auch im Rahmen dieser zugrunde liegenden Wissenschaft fähig machen würden.

Gelingt dies wirklich, wäre etwas Perfektes erreicht – jedoch auch so schon ist es ein Beweis für die überindividuelle Seite der bearbeiteten Anamnesis. Der genannte Patient hat ja schon vorher Aggression und Libido in den Kiefer Nasenbereich verlagert und fixiert. Jetzt wird er seine Kräfte insgesamt umstellen, nicht nur im persönlichen, sondern auch im generellen Bereich von intellektueller Tätigkeit. Dabei hat er tatsächlich auch auf vorevolutionäre Phasen zurückgegriffen. Aus dem Tierreich ist bekannt, dass Tiere Körperform und –farbe durch nervlich-hormonelle Steuerung umverteilen können und dass diese auch zu höheren Gehirnentwicklungen geführt haben. Wie die Neurologen sagen, ist das Gehirn überhaupt, speziell auch das menschliche Gehirn besonders „plastisch“ und somit fähig sich umzustrukturieren. Solche Vorgänge haben schon bei den geringen Veränderungen des genannten Übenden sicher auch stattgefunden. Der Druckschmerz war neurologisch mitbedingt und hat sich verändert. Es ist also zu einer überindividuellen Wieder-Anamnesis gekommen, auch wenn diese nicht in der ja fast halluzinatorischen Form geschehen ist, wie dies wohl im Falle Platons gedacht war.

Bei Platon ging es um das Eidos, einen mehr bildhaften Signifikanten – wenn ich dies einmal so modern und lacanianisch ausdrücken darf. Wiedergeburten und Wiedererinnerungen muss man sich daher bei Platon als eine Form der Halluzination denken. Bildhafte Visionen früherer Existenzen und geometrischer Einsichten sollten die Basis solcher Anamnesis sein. Der Mystiker, der „Seher“ wurde zwar mehr und mehr durch den Philosophen abgelöst, der eher zu viele Gedanken hatte und verarbeiten musste, aber die Anamnesis war noch bei Aristoteles und ist bis heute noch bei Reinkanationssüchtigen und Präkognitionsfanatikern gleichermaßen in Verwendung. In dem geschilderten Fall  geht es also um überindividuelle Anamnesis ohne zu starke Bildhaftigkeit. Es handelt sich aber auch nicht um das, mit dem die Psychoanalyse begonnen hat, nämlich um die Konversion, die Libidoverschiebung durch Verdrängung erotischer Triebe.

Freuds Kollege W. Fließ, ein HNO-Arzt, hatte nämlich festgestellt, dass bei vielen Patienten Nasenmuschel- und Nasennebenhöhlenprobleme mit verdrängter sexueller Libido zusammenhängen. Da diese Regionen genau so wie die der Genitalorgane mit venösen Gefäßgeflechten versehen seien, verschiebe sich die Libido wohl auf solche ähnlich gestalteten Organe. Doch war dies nur ein Sonderfall der speziell genitalen Libido. Bei Freud wurde der Begriff des Sexuellen schließlich mehr ausgeweitet und hatte nicht unbedingt immer etwas mit anatomischen Ähnlichkeiten zu tun. Auch wenn in meinem Beispiel mit dem „Nase sein“ Erinnerungen an die Fließ´sche Theorie wach werden, war es bei dem genannten Patienten doch eine Neuralgie, ein ausstrahlender Nervenschmerz, der nichts mit der typischen Konversion der eher hysterischen - bzw. wie man heute sagt – histrionischen Neurosen zu tun hat, bei denen eine Identifizierung mit dem anderen Geschlecht, mit der unterschiedenen Art der Erotik zugrunde liegt. Während die klassische Psychoanalyse für die Behandlung dieser Neurosen bestens geeignet ist, war für den Fall des zitierten Patienten die Analytische Psychokatharsis die Methode der Wahl.