Vom stimmigen Leben

In  seiner Schrift „De vita beata“ (vom glücklichen Leben) greift der römische Philosoph und Staatsmann Seneca zu weit. Denn glücklich war sein Leben eigentlich nicht, er haderte eher mit seinem Reichtum, als dass er ihn ungehemmt genießen konnte und musste sich schließlich auf das Geheiß Neros selbst umbringen. Augustinus, der mehr oder weniger für ein Buch den gleichen Titel wählte (De beata vita), verlegte das Glücklichsein in die spirituellen Sphären des frühen Christentums. Fraglich, ob dies für heute auch noch gilt, denn Augustinus´ "Gottesstaat" war damals noch nicht verwirklicht (Flasch, K., Das philosophische Denken im Mittelalter, Reclam, 2013, S. 54) und ist es heute schon dreimal nicht mehr. Zahlreiche Bücher moderner Schriftsteller haben nicht viel daran geändert, dass wahres Glücklichsein immer noch unklar und problematisch geblieben ist. Ich habe daher gleich von vornherein den Titel „Vom stimmigen Leben“ gewählt.


Das hat zweierlei Gründe. Einerseits muss das Leben „stimmig“ im üblichen Wortsinn sein. Es muss alles einigermaßen passen. Vieleicht ist es dann auch glücklich, aber „stimmig“ genügt im Grunde genommen schon. Es klingt bescheidener als glücklich und beinhaltet doch auch sehr viel Positives und Zufriedenstellendes. Doch es gibt noch ein zweites „stimmig“. Dieses bezieht sich auf das Wortwörtliche des Ausdrucks „stimmig“. Es soll heißen, dass es wirklich wie mit einer Stimme gesprochen vermittelt sein soll. In der Psychoanalyse spielt diese Art des „Stimmigen“ eine besondere Rolle. Nicht nur muss der Analysand, der Patient, alles sagen, was ihm gerade so einfällt und so seinen peinlichsten und auch abwegigsten Gedanken eine Stimme geben, auch der Therapeut muss mit seiner Stimme Deutungen und Interpretationen vermitteln. Sprache und Stimme sind die einzigen Mittel, die in der Psychoanalyse zugelassen sind. Dabei muss zudem – so drückt sich Lacan aus – der Psychoanalytiker mit der „Stimme eines Toten“ reden, er darf nichts von sich als Lebenden oder gar erotisch Fühlenden von sich geben. Er muss ein sprechender Niemand blieben, damit alles Inhaltliche und im Dialog Mitschwingende auf der Seite des Patienten zu dessen Klärung und Heilung mitverwendet werden kann. Letztlich ist es so, als erhebe sich zwischen Patient und Analytiker eine "dritte Stimme", die das Entscheidende Aussagen zu Wege bringt. Nach Lacan handelt es sich um die „Stimme des (psychischen) Objekts“. An anderer Stelle sagt er auch, dass sich das Subjekt im „Gebot der Stimme“ vollendet, was also das Gleiche ausdrückt: die psychoanalytische Arbeit erschließt und schließt sich mit dieser Stimme.
In meinem Verfahren der Analytischen Psychokatharsis habe ich der Stimme bzw. dem Stimmigen noch eine intensivere, isoliertere und ausschließlichere Bedeutung zugewiesen. Um wirklich stimmig zu sein, muss die Stimme ja aus vielen Einzelteilen zu einem Modus zusammengefügt werden wie wir es etwa aus der Musik kennen. Terz und Quint sind mehrtönige Klänge, mit denen man einen einheitlichen, wohltemperierten Musikklang komponieren kann, und so kann man sich gut Stimmen vorstellen, die ebenso mehrstimmig sind und doch nur ein Satzstück oder gar ein ganzes Traktat ausdrücken können. Das übliche Statement, dass eine Gruppe nur mit einer Stimme reden sollte, könnte man umfunktionieren: im menschlichen Leiden gibt es immer mehrere Stimmen und doch ist das Wort „Heilung“ nur einstimmig gesprochen.  In meiner Broschüre „Die körperlich kranke Seele“ habe ich mehr im theoretischen Sinne eine Stimmenüberlagerung diskutiert, die letztlich in einen derartigen Einklang mündet.
Schon Sokrates – schrieb ich - stützte sich in seiner Philosophie wie bekannt erstens auf die Stimme seines „Daimonions“, seine „innere“ Stimme, sodann auf die Stimme der einfachen Leute, die er ja in intensive Dialoge verwickelte. Sie sollten authentisch sprechen, wozu er ihnen mit seiner Maieutik (Hebammenkunst) genannten Methode half. Schließlich stützte Sokrates sich noch auf seine eigene, seine sich äußernde Philosophen-Stimme. Nicht anders Freud. Er stützte sich wie erwähnt auf die Stimme seiner Patienten, sodann auf die der Wissenschaft, die ihm ein bestimmtes exaktes Vorgehen vorschrieb und letztlich natürlich auch auf seine schriftstellerische Stimme, die ihm ja sogar einen Literaturpreis einbrachte. Auch ich stütze mich in der Analytischen Psychokatharsis auf die Stimme der Wissenschaft (speziell auf die der Psychoanalyse Lacans), zweitens auf die der dort verwendeten „Formel-Worte“  und schließlich auf die deutende Stimme dessen, was ich die „Pass oder Identitäts-Worte“ genannt habe. (evtl. unter Zuhilfenahme des Therapeuten). Gerade diese Formel- und Passworte sind exakt etwas, worin sich gebotsmäßig die Stimme vollendet, denn sie klingt wie die von Niemand, wie die an der Grenze von Sprachlichem überhaupt. Obwohl klare, wohldefinierte Sätze oder Bedeutungen in diesen formelartigen Formulierungen der Formel- und Passworte stecken und sie dadurch besonders "stimmig" werden, sind sie doch vorwiegend nur Stimme, da sich in ihnen viele Stimmen zu einer überlagern.
Um aber jetzt endlich zu meiner Thematik des „stimmigen Lebens“ zu kommen möchte ich noch - rein theoretisch - nochmals erwähnen, dass Lacan auch von der  „Stimme des (psychischen) Objekts“ spricht, in dem sich also mehrere Stimmen vereinigen, also zumindest die des Unbewussten, die ja verschieden sein können. Es kann die Stimme des Es oder auch des Über-Ichs sein, die sich verknoten und ineinander verschachteln. Das Subjekt, das sich im „Gebot der Stimme“ vollendet, erreicht in der gelungenen Kombination der Triebe bzw. des psychischen Stärkungs- und Festigungsvorgangs durch geklärte Trieb- und Objektbeziehungs-Verhältnisse also, einen festen und klaren Ausdruck. Bekanntlich ging Freud davon aus, dass die Grundtriebe (Eros-Lebens und Todestriebe) sich teilen können. Der Oraltrieb, der Gaumenkitzel oder die Lippen- und Mundlust ist einer der frühesten dieser Partial-Triebe. Jeder Raucher weiß, dass er nicht nur vom Nikotin, sondern vor allem davon abhängig ist, etwas zwischen seine Lippen zu pressen und lustvoll in sich hineinzuziehen. Der „Stimme“ dieses oralen Objektes steht aber die Stimme anderer Teil-Objekte gegenüber.
In der klassischen Psychoanalyse spricht man nicht vom „idealen Objekt“. Aber bei dem, was ich gerade die „Formel- und die „Pass-Worte“ genannt habe, kann man von „idealen Objekt“ reden, weil es sich hier nicht um ein Objekt eines Partialtriebes handelt, sondern um die gelungene und objektartige Kombination der Grundtriebe selbst zu genau der Stimme, in dessen Gebot – wie zitiert – sich das Subjekt vollenden kann. Gelenkt durch die „Formel-Worte“ kommt in den „Pass-Worten“ die Stimme des Unbewussten mit der relativ bewusster Gedanken so zusammen, dass man wirklich von einer derartigen gelungenen Kombinatorik sprechen kann und sich auch tatsächlich stimmlioch äußert.  Ich gebe ein Beispiel, in dem ich zwar nicht mehr erkläre wie genau die „Formel-Worte“ aufgebaut sind und das ganze Verfahren funktioniert, aber doch die Stimmigkeit klar wird, von der ich sprechen will. Dazu schreibe ich die „Formel-Worte“, die ich hintereinander gedacht bzw. gedanklich wiederholt habe, einfach als XXX oder YYY usw. und dazwischen die Gedanken, die mir wie von woanders her oder von etwas Anderem in mir gesagt, gekommen sind.
XXX  YYY ich weiß ja wer es ist XXX YYY ZZZ die Kellerassel XXX  YYY  ZZZ . . . Zwischen den gedanklich wiederholten Formel-Worten schob sich also ein Denken ein, das fast stimmlich zu hören war: ich weiß ja wer es ist, die Kellerassel. Dieses „ich weiß ja wer es ist“ klang mir sofort nach dem Gedanken, den ich schon öfters hatte: wer könnte es sein, der Lacan wirklich gut interpretiert. Das war verbunden mit dem narzisstischen Gefühl, ich  könnte damit selber gemeint sein, was sich bestätigte mit dem "die Kellerassel". Mein Arbeitszimmer und Bibliothek liegt im Keller, assoziierte ich sogleich. Nun könnte man sagen, dass solch eine Interpretation ganz schön narzisstisch und geltungssüchtig  ist. Und das stimmt auch, die Sache war wirklich stimmig. Ich bin dabei nicht weniger eitel als Freud, der, nachdem er meinte, das Wesen des Traums erklären zu können, an seinen Freund Fließ schrieb, er hoffe, dass eines Tages eine Tafel an dieser Stelle (Bellevue bei Wien) errichtet werde, auf der steht: „Hier gelang dem Dr. Freud erstmals die Deutung eines Traums“. Ich finde es so oder so erstaunlich, dass diese Stimmigkeit sich in so positiver Weise - wenn auch hinsichtlich der Bemerkung mit der Kellerassel auch in lakonischer Weise -  mitteilen kann. Denn in der psychoanalytischen Traumdeutung kommen letztlich nur sexuell und aggressiv motivierte Trauminhalte zu Tage und nicht einfach – wie dies in der antiken Traumdeutung oft gang und gäbe war und wie es hier auch so scheint – eine positive Zukunftsdeutung. Wir deuten in der klassischen Psychoanalyse den Traum meist kausal und nicht final. Wir stützen uns bei der herkömmlichen psychoanalytischen Arbeit mehr das beharrende Unbewusste, nicht auf das kreative, wie es der Psychoanalytiker S. Leikert unterscheidet.
Damit will ich sagen, dass „Pass-Worte“ sich nicht nur in Form einer Stimme verlauten lassen, sondern eher in einer Stimmigkeit, die eben einfach zur eigenen Identität „passt“, was eher auch etwas Kreatives ausdrückt. Dadurch und wirklich nur erst dadurch kann das Leben stimmig werden im mehrfachen Sinne dieses Wortes. Das Ganz hat also nichts mit „Stimmenhören“ zu tun, wie wir es von der Psychiatrie her kennen. Hier sind die Stimmen völlig unbewusst und stammen aus zahlreichen psychischen Objekten, die nicht verarbeitet und integriert sind. Aber auch hier kann die Analytische Psychokatharsis helfen, die Stimmen in einer Stimme zusammenzuführen, nämlich eben in der des Körpers als solchem. Ich beziehe mich hier wieder auf Lacan, der vom „Geheimnis des sprechenden Körpers“ schreibt ([1] Lacan, J., Seminar XX, Quadriga (1986) S. 141), dass dieser der Kern des Unbewussten ist, die absolute Schaltstelle im Unbewussten. Ich habe dies immer durch Buchstaben ausgedrückt, die auf dynamische geometrische Strukturen aufgemalt sind. Die dynamischen geometrischen Strukturen sind der Körper und wie er sprechen kann, liegt in der engen psycho-linguistischen, -semiotischen Verschaltung.

Die Analytische Psychokatharsis vermittelt sich also durch die ihr eigene Stimm-Konzeption, die der Psycho-Physik am engsten und besten entspricht, da jeder sie selbst und nicht durch andere, nicht durch das Stimmengewirr heutiger Wissenschaften wahrnehmen kann sondern "selbststimmig" (einstimmig in modernen Form).