Öko-Erotik, die moderne Form der Eudaimonia

Das „ozeanische Gefühl“ von R. Rolland, Autoerotismus, Narzissmus, Ich-Orgasmus (Winnicott), mystische Ekstase (Erleuchtung), submanischer Zustand, ausgeprägte Übertragungsliebe, ‚weibliches Genießen‘, Eudaimonia (Glückseligkeit) – alle diese Bezeichnungen umkreisen eine Erfahrung, die irgendwie glück- und heilsversprechend klingt. Doch allen ist zu eigen, dass man letztlich nichts persönlich, also vom eigenen Ich aus, dazu tun kann. Man muss sich auf mythisch, mystische Fakten stützen. Nach psychoanalytischen Vorstellungen sind wir beim Genießen, beim Glückseligsein zwar nicht abhängig von anderen, aber doch abhängig vom Sprachbezug, vom Sprechen in Bezug auf den anderen, vom Anders-Sprechen. Deswegen kann auch ich hier niemanden glückselig machen, indem ich spreche oder schreibe. Aber ich könnte stammeln, stottern, kurz: am Rande des Sprachlichen mich ausdrücken, und das würde sehr wohl zu einer Glückseligkeit führen können, wenn man sich zwar nicht auf mich, aber voll auf diesen Sprachlichkeitsrand einließe.


Nicht nur in der Psychoanalyse Lacans, auch in der Physik, der Religion  und anderen Bereichen ist der Rand das Wichtigste. Um sich vorstellen zu können was das Unendliche, das Universum oder das Jenseits ist, muss man sich einen Rand denken, hinter dem sich das Andere abspielt. Für die Astrophysiker ist z. B. der „Ereignishorizont“ solch ein Rand, hinter dem Materie und Energie, ja sogar die physikalischen Gesetze, ins Schwarze Loch stürzen. Für den Psychoanalytiker ist der Rand vom Alltäglichen, Bewussten, Sinnesbezogenem zum Unbewussten hin die entscheidende Schnittstelle (beispielsweise auch der Mundrand hinsichtlich des sogenannten Oraltriebs). Den Sprachlichkeitsrand muss man sich auch so denken, dass er zwischen dem Bild des eigenen Körpers und dem eines anderen (also im rein Imaginären) eine Schnittstelle bildet, die Symbole, Worte, Bedeutungszeichen ermöglicht (also Symbolisches) und somit beides (Symbolisches und Imaginäres) sich gegenüber dem Realen abgrenzen und verbinden kann. 
Ich glaube diese Erfahrung des Randes, der uns eben auch von der uns eigenen Eudaimonia (Glückseligkeit) trennt und gleichzeitig verbindet, am besten mit dem Begriff der Analytischen Katharsis beschreiben und vermitteln zu können. Denn es ist einerseits eine körpernahe Erfahrung (Katharsis), die jedoch auch mit etwas Begrifflichem (Analytischem) einhergehen muss. Gerade dieses letztere fehlt den meisten der genannten glücksverheißenden Bezeichnungen. Demgegenüber steht das übliche Reden und Schreiben, dieses mangelnde Anders-Sprechen. In der religiösen Erfahrung scheint es beides zu geben, insofern sie sich durch eine göttliche Offenbarung kundtut. Der göttlichen Erfahrung aber fehlt wieder das mehr oder weniger Erotische der Katharsis, und auch das Analytische im wissenschaftlichen Sinne kommt zu kurz, abgesehen davon, dass es seit langem schon keine Offenbarungen mehr gibt.
Ähnlich ergeht es heute aber auch der Wissenschaft: sie kann nur relativ nüchtern, intellektuell, wortbezogen und sachlich steril verlaufen, denn Zustände von Glückseligkeit oder auch nur einem Anhauch von Erotik würden sie unglaubwürdig machen. Nur die Psychoanalytiker haben sich diesbezüglich ein bisschen aus der Schlinge ziehen können: die Psychoanalyse ist eine der Liebe (Eros) unterstellte Wissenschaft. Es geht ihr ähnlich wie der Paläöanthropologie, die beispielsweise in der Erforschung der Frühmenschen auch nicht anderes vorgehen kann als die Liebe zur Erkenntniskategorie zu erheben. Man muss die Neandertaler lieben, sagte Appleton, einer ihrer Erforscher, denn wir haben sonst nur ein paar Knochen, und daraus kann man nicht weiß Gott welche Schlüsse über das Leben dieser Vormenschen ziehen. Und nicht nur die Neandertaler muss man lieben um sich voll in sie einfühlen zu können, auch ihre damalige Zeit, ihre Umwelt und ihre Konaturalität (eine starke Naturverbundenheit, die ich im Folgenden Ökoerotik nennen werde). Man muss auch zu dem, was manchmal etwas seltsame Individuen von sich geben, eine positive und liebevolle Einstellung haben, sonst kann man nicht Psychoanalyse betreiben. Tut man dies, kann man aus den Zwischentönen und Träumen, aus den Assoziationen und Versprechern dieser Menschen wissenschaftlich fundierte Erkenntnisse erhalten. Die Liebe des Psychoanalytikers ist keine romantische, auch keine caritativ-himmlische, keine sexuell-erotische, sondern lediglich die seiner Geduld, seiner Zuwendung, seiner „schwebenden Aufmerksamkeit“ und seiner Gegenübertragungs-Empathie. Ob sie Eudaimonia für den Patienten und / oder auch für den Therapeuten enthält ist eher fraglich.
Denn diese klassische und herkömmliche Psychoanalyse beinhaltet eine recht umständliche und aufwendige Art des Vorgehens. Man könnte ihr die Formen der Eudaimonia entgegenstellen, sie man selbst und (fast) ganz alleine bewerkstelligen kann und die somit nicht so umständlich sind. Wie gesagt haben die oben bereits beschriebenen Formen den Nachteil, dass sie – als Rand - mythisch-mystisch-magische  Vorstellungen zu Hilfe nehmen müssen. Dies ist in der Analytischen Psychokatharsis nicht der Fall. Hier ist der Rand von zwei Seiten her wissenschaftlich definiert. Erstens von der Sprache selbst her, indem der Rand zwar noch aus Sprachzeichen (Buchstaben) besteht, aber über das, was wir üblicherweise unter Sprache verstehen hinausgeht. Zweitens, indem diese Sprachzeichen auch noch topologisch, mathematisch ange-ordnet sind. Dafür gebe ich ein paar Beispiele.
Das nebenstehende Bild zeigt solch ein topologisch-mathematisches Gebilde, nämlich eine Kleinsche Flasche. Es ist sofort resichtlich, worin ihre besondere Geometrie bzw. Topologie besteht. Ihre Innen- und Außenseite ist nur eine in sich selbst zurückführende, sich zurückstülpende Fläche, die keinen wirklichen Rand hat. Damit stellt sie ein ideales Gebilde für die oben beschriebene Diskussion um das Phäno-men des Randes dar. Astrophysiker könnten sofort oben den Ereignishorizont und das darunter ins scheinbar Innere gehende Schwarze Loch erkennen. Sie könnten dann auch sehen, dass dieses Schwarze Loch nur scheinbar ein solches ist, denn – wie ja neuerdings auch astrophysikalisch vermutet – entkommt ihr doch die sogenannte Hawking-Strahlung oder bildet sich – wie andere sagen- eine „weiße Quelle“ (also wieder ein Anfangsteil eines Universums). Doch gehen wir noch einen Schritt weiter.
Die beiden folgenden Bilder zeigen links eine Boysche Fläche mit aufgetragener Zeichnung der Erdkugel. Die Boysche Fläche besteht quasi aus drei ineinandergeschachtelten Kleinschen Flaschen, beinhaltet also ebenfalls eine einzige Fläche, die extrem ein- und ausgestülpt ist. Der Vorteil: man sieht an ihr diese zugrundeliegende Verstülpung, Verdrehung, besonders gut an der dicker gezeichneten Äquatorlinie. Die nach innen gestülpten Teile dieser Linie verdrehen sich nämlich wie ein Möbiusband, das ein um 180 Grad verdrehtes und dann so an seinen Enden zusammengeklebtes Band ist (siehe kleines Bild rechts).
Nun ist es nicht mehr schwierig, den letzten Schritt zu tun. Die Boysche Fläche und die Verdrehung des Bandes stellen den mehr imaginär-realen Teil der Eudaimonia dar. Die kunstvollen Ein- und Ausstülpungen, die offensichtlich ein sogar im Realen der Natur enthaltenes Prinzip darstel-len, tragen uns – einschließlich ihrer Möbiusband-Verdrehung nicht nur schwindelnd in die Höhe des Glücksgefühls, sie verorten uns auch etwas, gibt uns also einen vorübergehenden Halt.  Um diesen Halt auch analy-tisch zu verorten, muss man auf das Möbiusband die Bedeutungszeichen auftragen, damit aus dem ganzen Gebilde heraus der genannte Sprachlichkeitsrand intoniert ist bzw. sich verlauten lassen kann.
Die nächste Abbildung und Erklärung demonstriert daher, warum dies auch wissenschaftlich zu begründen ist und nicht nur blande, taumelnde Eudaimo¬nia bleibt. Man sieht wieder die Boysche Fläche samt ihrem Möbius-Äquator¬band. An den herausgestülpten Flächen sind die Buch-staben sichtbar schwarz gemalt, die innen liegenden verdrehten Anteile sind hell und auch verkehrt herum aufgetragen, um der Verwindung der Flächen gerecht zu werden. Warum die darin steckende Formulierung SUM- AL-IT-ERA nach psycho-linguistischen bzw. –semiotischen Prinzipien aufgebaut ist und mehrere Bedeutungen in sich fasst, erkläre ich anderer Stelle ausführlich (Die körperlich kranke Seele). Damit soll auf jeden Fall die wissenschaftliche Orientierung sicher gestellt sein.
Zudem ist jedoch auch ersichtlich, dass – übt man rein gedanklich eine derartige Formulierung – man nicht bewusste Gedanken, bewusste Rationalisierungen und ein Nachstudieren weiter verfolgen kann, sondern das Unbewusste, das mit seiner Betonung der Randstruktur genau so aufgebaut ist, herausfordert, weckt, zu einer Aussage stimuliert. Diese Aussage wird also eben nicht ein rationaler Gedanke sein, sondern ein Gedanke aus der Mitte der randsprachlichen Struktur selber kommen. Er wird durch das kathartische Element gestützt, weil dieses ja ebenfalls die Öffnung des Unbewussten fördert.
In der Analytischen Psychokatharsis ihr bezieht man sich also auf das Nichts, auf die Dunkelheit, auf diese Absolute Wenigkeit, Verdrehtheit die der Rand darstellt (Die Boysche Fläche enthält zwar keinen Rand, dennoch suggeriert sie einen solchen z. B. eben an der Äquatorlinie. Gerade weil der Rand nicht sicher ist, tut sich das Nichts, die Leere vor einem auf, wenn man sich hinsetzt und meditiert. Man muss das Nichts, diese erst einmal erscheinende Leere akzeptieren und lieben lernen, sonst kann man gar nicht damit anfangen. Hat man den Schritt getan, diese Unendlichkeit des Universums, diese Null des Dasein, dieses Unbekannte in einem selbst zu lieben, kann man auch Erfahrungen machen, die wissenschaftlich fundiert sind. Ich habe daher in den Titel das Wort Öko-Erotik mit eingebaut, denn dieser Umgang mit dem Rand sowohl in topologischer und sprachlicher Richtung kann durch solch ein Wort auch ganz gut ausgedrückt werden. Schließlich habe ich mich ja darauf beru-fen, dass keine mythisch-mystischen, aber auch nicht erstarrten wissenschaftliche Zugänge benutzt werden sollen. Die Psychoanalyse ist eine eigenständige Wissenschaft (oder praktische Logik), die von sich aus – wie schon Freud sagte – wirkt.
Und so soll auch von sich aus Erkenntnis und Eudaimonia, Öko-Erotik, zustande kommen, wenn man die Analytische Psychokatharsis übt. Auf dieses Von-Sich-Aus haben auch andere Autoren schon hingewiesen und von einer Selbst-Sublimierung gesprochen.