Liebe, Tod und Gehirn

Das Gehirn, der Tod und die Liebe.
So etwas könnte Überschrift in einer dieser Klatschillustrierten sein. Eine Kolportage. Ist es aber nicht. Es handelt sich vielmehr um ein einfaches Dreigestirn, bei dem es gleichgültig ist, mit welchem der genannten Terme man anfängt. Das Sterben ist der glückseligste Vorgang schlechthin, nur ist das Wissen darüber bekanntlich sehr schwer zu erreichen. Auch Lacan behauptet in einem seiner Seminare, dass es „Genießen nur durch Sterben gibt“.  Zuvor hatte er sich auf Hegel berufen, der bekanntlich den Dreischritt „These, Antithese, Synthese“ als Grundlage seiner Philosophie darstellte. Die These – so Lacan - sei so etwas wie die Auffassung der katholischen Kirche, dass es geschlechtliches Verhältnis gäbe, weil man auf diese Weise Kinder zeugen könne. Das sei haltbar – meint Lacan – aber nicht beweisbar. Die Antithese – so Lacan weiter – betrifft das Nichtvorhandensein des geschlechtlichen Verhältnisses beim Menschen, den er auch ein „Sprechendes Sein“ nennt, weil man nichts vom Sex sagen, fest konstatieren und eben beweisen kann. Schließlich formuliert Lacan dann die oben zitierte Synthese, dass es „Genießen nur durch Sterben gibt“. Nun ja, das ist noch nicht ausreichend erklärt.


Auch Mystiker, praktizierende Zenbuddhisten und Adepten verschiedener Yoga- und Meditationssysteme behaupten zumindest, dass es sich mit dem Sterben so verhält. Der Außenstehende sieht den innerlichen Vorgang des Strebens bei einem anderen Menschen natürlich nicht, er stellt sich schreckliche Dinge vor und kann ja auch nur das Zerbrechen und Verwelken des Körpers äußerlich beobachten. Andererseits erlebt man auch den eigenen Tod nicht. An anderer Stelle sagt Lacan auch, dass man das Jenseits und seine paradiesische Verfassung nur durch zwei Tode im Diesseits erfahren kann. Der eine Tod ist der physische, der letzte, der andere der semantische, umfassende, signifikante und tiefenpsychologisch-regressive, der vorher erfolgen muss. Trauer, Krankheit, Verzweiflung aber auch Ekstase, Rausch und Hypomanie sind Beispiele für diesen vorher zu erfolgenden regressiven Tod. Auch vom Orgasmus – um jetzt den Übergang zum Sexuellen zu finden - hat man immer schon als dem „kleinen Tod“ gesprochen, obwohl es sich hier um die dürftigste Form dieses Vorhersterbens handelt. Dass Regression, also ein Zurückgehen auf frühere seelische Zustände, in den Schlaf oder in die Trance und Ähnliches ein Vorgang sein kann, den man genießen kann, ist vielleicht überhaupt nicht unbekannt. Dementsprechend ist bei all diesen Formen des „Sterbens“ (man muss dies fast in Anführungszeichen setzen) hier auch die Liebe klein, d. h. unvollständig. Denn Regression bedeutet, dass man nicht zu bewussten, differenzierten und vielschichtigen Gefühlen und Emotionen fähig ist, sondern nur zu ganz elementarem Affekten..
Um eine gewisse Vollständigkeit aller drei Terme „Gehirn, Tod und Liebe“  und der Hegel-Lacan´schen Theorie zu erreichen, muss man sich vielleicht auch noch der Neurologie zuwenden zum Beispiel der neurologischen Embryonalentwicklung. Bei dieser kann man nämlich sehen, wie sich durch erste Einstülpungen der ursprünglichen Zellkugel (Gastrulation, Neurulation) das Neuralrohr bildet (in Abb. 1 in einer ersten Krümmung dargestellt). In der  folgenden embryonalen Entwicklung  kommen weitere  Einstülpungen und Krümmungen zu-stande.
In der Abb. 2 ist zu sehen, wie sich z. B in Punkt 3 eine starke Einbuchtung, Einschneidung herstellt, die die bereits gekrümmten Neuralrohrabschnitte vollkommen verdreht. In Figur 3 ist dies noch stärker und weiterhin fortgeschritten zu sehen. Das nun bereits gut ausgebildete Großhirn P verlagert Zellmassen vom Frontalbereich in den Temporal-(Schläfen) Lappen und die oberen Hirnstammbereiche verdrehen sich ebenfalls.                                             Nun kann man die Neurologie nicht rückgängig machen. Eine reale Regression auf dieser Ebene ist nur mit einer neurologischen Störung vereinbar. Vielleicht wird man eines Tages Computer-Chips ins Gehirn einsetzen könne, die die genannten Gehirnteile so verbinden, dass man sie spielerisch verschalten kann. Dann könnte man vielleicht gleichzeitig frühere neurologische Zustände mit späteren so kombinieren, dass die oben genannten vielschichtigen Empfindungen und Emotionen zusammen mit den elementaren Affekten in ein harmonisches Ganzes verwandelbar sind. Doch solche Eingriffe werden sicher Nebenwirkungen haben und so greifen wir lieber auf die heutigen Möglichkeiten zurück.
Denn – um es vereinfacht zu sagen – man hat immer schon in psychotherapeutischen Verfahren gewisse Rückdrehungen zustande gebracht, freilich erst nach langem Üben und komplexen Anwendungen. Man spricht ja heute viel von der besonderen Plastizität des Gehirns speziell auf einer reinen Verschaltungs- und Verknüpfungsebene. Große sichtbare neurologische Veränderungen sind ja nicht nötig, indem man mit einer erneuerten und verbesserten Software die neurologische Hardware zumindest etwas überspielen kann. So hat man also immer schon ein gewisses kombinatorisches Spiel zwischen den neurolo-gischen Ebenen herstellen können. Die Rückdrehung findet also nicht in einer realen, involutiven Form statt, sondern nur in der signifikant-regressiven Form, die aber – wenn auch mühevoller als der schon fertig präparierte Chip - entscheidend ist..  
Dies ist zum Teil  an photonenemissionstomographischen oder single-photon-emission-computed-tomographischen Bildern bei Meditierenden nachzuweisen gewesen, wie in der neben stehenden Abbildung 4  gezeigt. Die Gehirnaktivitäten werden umgekehrt wie im Normalzustand sichtbar. Sie steigen im Frontal- und Parietalhirn an (im P der Abb. 1 und 2) und schwächen sich im Thalamus ab (im R der Abbildungen) Dem Meditierenden ist dies selbst meist jedoch nicht so sichtbar, obwohl er doch diesen regressiven Blick selbst ins Innere richtet. Warum?
                                                                                                                              Abb. 4 
Er liebt nicht vollständig genug. Er hat es zwar wie im Katholizismus ge-macht und die Neuro-Aktivität nach oben verlagert, aber kein echtes Spiel zwischen den höheren und niederen Abschnitten ermöglicht. Er ist bei der Vorstellung stehen geblieben, dass es wirklich ein sexuelles Verhältnis gibt, das sich einkreisen lässt. Um das genauer zu verstehen, muss man zu Sex. Liebe und Gehirn auch noch den Tod ist Spiel bringen. D. h. man muss nicht nur simpel – z. B. durch die einfache Verschiebeng von unten nach oben – regredieren, zurückfahren und einfach nur umkehrend „sterben“, sondern wie der Psychoanalytiker H. D. Boileau sagt „nützlich sterben“. Denn „nützlich sterben“ ist das gleiche wie vollständig lieben, wobei das oben und unten der neurologischen Areale spielerisch verbunden sind.
Der vollständigen Liebe haftet nämlich ein Sprechen an, das am Scheitelpunkt dieser Rückdrehung in eine – wie Lacan es nannte – „ultrareduzierte“ Form übergeht. Lacan benutze dazu die Topologie, geometrische Figuren, die sich besonders durch ihre Krümmungen, Ineinanderschachtelungen und Verdrehungen auszeichnen und die in Verbindung stehen mit dem „Ultrareduzierten“ und in sich Verdrehten der Sprache. Gemengelage ist z.B. so ein Ausdruck, bei dem die meisten Menswchen wohl nicht wissen ob es ein Gemen-Gelage ist, oder eine Ge-Menge-Lage, Gem-Enge-Lage, Megengelage, Gen-Mengen-Lage usw. Auch ist dies nur ein rein formales Beispiel und so hat dieser Ausdruck sicher nichts mit den drei Termen Liebe, Tod und Gehirn zu tun. Aber als Wortspiel kann es zum Verständnis und zur Hegel-Lacan´schen Theorie beitragen.
Um ganz dahin zu kommen darf nämlich ein derartiger Ausdruck als Ganzes keine eindeutige Bedeutung haben. Eben dies ist ja bei der katholischen Kirche nicht der Fall. Sie sagt, es gibt sexuelles Verhältnis (dem ein Genießen unterstellt wird), weil man Kinder zeugen kann. Doch dass dies sexuelle Genießen als eines Verhältnisses der Geschlechter wirklich existiert, ist also nicht bewiesen. Was die Kirche tut ist einfach nur eine Setzung, eine These, der man dann leicht die Antithese entgegensetzen kann: als Sexuelles existiert dieses Verhältnis der Geschlechter gar nicht, und es beinhaltet als Sexuelles ja auch nicht die Form des Sterbens und der Regression, von der aus man dann progressiv und wieder neu geboren werdend genießen kann. Laut Kirche kommt dieser Genuss erst im  Nachhinein und jenseitig zustande, und dann ist das Leben schon vorbei. Dass dies so ist, dafür ist nämlich wieder die Beschäftigung mit dem Gehirn nützlich. 
Denn wie gesagt, auch dieses beinhaltet These und Antithese, Verdrehung, Ineinanderschachtelung von Anfang an. Für das Gehirn bedeutet Sterben ein Zurück zu den Regionen des Stammhirns und der wahre Genuss stellt sich ein, wenn diese Regression eines Zurück mit dem Nach-vorne und Nach-oben zum Großhirn wenigstens noch ganz gering verbunden bleibt. Denn dann gibt es Synthese und auch die Liebe geht nicht ganz leer aus, denn es gibt auch eine neurologische Präsenz von ihr. Die Mystiker sagten immer schon, man müsse „das Herz in der Stirne haben“, die Liebe nur unten im Herzen zu begraben lässt sie zu irdisch und objektbezogen bleiben. Um sie vollständig zu machen braucht es noch einen weiteren Schritt. Philosophie, Religion, Neurologie, Mystik und Trance etc. reichen nicht aus. Was man benötigt, ist Psycho-Linguistik wie sie schon in dem Beispiel vom Gemengelage rein formal und schematisch angedeutet worden ist.
Denn das „Sprechende Sein“ braucht Sprache und ein fassbares, durch Üben greifbares und durch Sterbengenießen bestimmtes Sein. Erst durch Zerlegung, die einzelne Bedeutungen des „Sprechenden“ freilegt – wie ja beim Gemengelage zu sehen, die jedoch wieder untereinander keinen Zusammenhang, keinen Sinn ergeben, kann das Gehirn und die Psyche (wie auch die Religion und die Philosophie) auf Regression geschaltet werden und den Seins-Blick, die Wahrnehmungsidentität (wie Freud es nannte)  auf Liebe und Tod freigeben. Wenn man von vornherein weiß, was eine Gemengelage ist – und dies sind ja wahrscheinlich doch eine ganze Menge Leute – funktioniert die Gehirnregressionsmethode als These genauso nicht wie wenn man nicht weiß, wie es zerlegt, in linguistische Teile als Antithese verdreht werden kann.  Man haftet dann – z. B. bei dem gedanklich  mehrfachen Sich-Vorsagen, also Meditieren  – zu sehr an der bereits gegebenen Bedeutung und bleibt daran fixiert oder hat nichts von der Kuriosität der Zerlegung in die Teile. Wir sind heute so sehr buchstaben- und wortfixiert, dass wir angesichts eines Wortes oder Satzes nicht mehr Nicht-Lesen können. Hingeblickt und schon gelesen, geschluckt, verinnerlicht ist die Devise, aus der wir nicht so leicht heraus können. Doch nur vor absolut nicht begreifbaren Buchstabenteilen zu stehen, die unlesbar scheinen, ist genau so wenig vorteilhaft.
Was wir brauchen ist also eine „Mesologie“ (Lacan), eine Wissenschaft von der Mitte, in der die Buchstaben mal etwas bedeuten und mal wieder nicht. Man kann sich nicht definitiv entscheiden so wie in der Mathematik letztlich der Gödel´sche Unentscheidbarkeitssatz gilt, dass man letztlich nicht sagen kann, ob etwas wahr oder falsch ist. Im Französischen gibt es durch Homophonien, also durch Gleichklänge, solche Unentscheidbarkeiten, wie etwa: reson (Widerhall) – raison (Vernunft) oder ce condiment (dieses Gewürz) - ce qu’on dit ment (was man sagt, lügt). Gerade dies letztere Beispiel zeigt auf humorige Weise die Ineinanderschaschtelungen und Unentscheidbarkeiten. Denn mit der Zunge, mit der man die Gewürze schmeckt, spricht/lügt man auch. Gleichklänge finden sich auch in frühen Sprachen sogar für gegensätzli-che Dinge: altus bedeutet im Lateinischen hoch aber auch tief, sacer heilig aber auch profan. Ich operiere in der Analytischen Psychokatharsis gerne mit lateinischen Ausdrücken, die jeweils von einer anderen Stelle aus gelesen, andere Bedeutungen ergeben. 
Und wenn die Psychoanalytikerin M. Mitscherlich ihr letztes Buch „Eine Liebe zu sich selbst, die glücklich macht“ nannte, so spielt hier ebenso eine Unentscheidbarkeit die Hauptrolle. Die immer schon stur als nur romantisch, nur caritativ oder nur spirituell getarnte Liebe ist zu sehr in eine einseitige Richtung entschieden. So eine Liebe hilft beim „nützlich Sterben“ nicht. Es muss vielmehr um eine Liebe gehen, die nicht so krass entschieden ist, die also etwas unentscheidbar bleibt, deswegen ist sie trotzdem noch Liebe. Und sie ist vollständig, weil im Gleichklang und  Ineinanderschachtelung von Liebenden und Geliebten. Bekanntlich soll ja auch in einer Psychoanalyse weder der Patient noch der Analytiker zu vordergründig lieben oder geliebt werden, sondern diese Aufgabe soll die Übertragungsliebe übernehmen, die vom „Subjekt, dem Wissen unterstellt wird“ getragen wird. Dieses Subjekt nannte Lacan auch den/das groß zu schreibende(n) Andere(n), abgekürzt A. Er/Es repräsentiert das Zentrum des Unbewussten, das also, wo Tod, Liebe und Gehirn sich als Signifikanten (Bedeutungsknoten) ineinandergeschachtelt wiederfinden. Eine Liebe zu sich selbst, die glücklich macht, kann nur eine dort in A sein, zu sich selbst an diesem Ort und nicht im Ich oder Idealbildungen des Ichs und auch nicht in den Trieben allein. Nur dort kann man „Erinnerungsverabredungen“ haben, indem zwischen Gehirn und Tod sich das Unbewusste so bewegt, dass es nicht nur  Erinnerungen hervorruft, sondern es sich mit diesen auch sprechen lässt.
Bekanntlich dient die Psychoanalyse dazu, verschüttete und verdrängte Erinnerungen wachzurufen, um sie sprachlich bearbeiten zu können. Das Wachrufen geschieht vermittels freier Einfälle, Träume, Symptome, Fehlleistungen und Versprecher des Probanden. Das Unverstandene enthält die Botschaft. Deswegen ist es auch egal, ob man den Zusammenhang von Gehirn, Liebe und Tod versteht. Wichtig ist nur, dass es „Erinnerungsverabredungen“ evoziert und auch eine „Liebe zu sich selbst, die glücklich macht“ hervorruft. Früher haben die Mystiker gesagt, dass man von Gott berauscht sein müsse, intoxikiert, verrückt gemacht. Die Berauschung und die wahnhafte Liebe musste über den Mangel an Gottesbeweisen hinweghelfen. Warum nicht bei sich selbst in A die Verabredungen treffen, die mit den Erinnerungen und dem Sterbengenießen zu tun haben.