Autobiographische Notizen

Autobiographienotizen

Man sollte nicht seine eigene Biografie schreiben. Aussagen über sich selbst sollte man eher einem möglichst fremden Biographen überlassen. Also werde ich hier nur Begebenheiten verschiedenster Art aneinander reihen, ein bisschen wahllos, und doch vielleicht wenigstens chronologisch geordnet in seiner Wahllosigkeit. Es geht mir eher um eine kleine Selbstanalyse.  Da gibt es zum Beispiel jene berühmten frühesten Erinnerungen, die jeder Mensch zu haben glaubt. Ich denke jedoch, dass ich zwei verschiedene Arten dieser frühesten in Erinnerungen kenne. Sicher bin ich mir nicht. Aber einerseits existieren Bilder in meinem Kopf von jenen relativ sonnigen Tagen in  jenem kleineren oberösterreichischen Städtchen, aus Mondsee nämlich, einem nach dem Zweiten Weltkrieg noch recht verschlafen ihnen Nest in der Nähe von Salzburg. Doch dann gibt es noch ein anderes Bild, das mich aus einem Traum aufwachen ließ oder auch in einem meditativen Moment mir irgendwie eindrucksvoll erschienen ist. Ich sah eine Winterlandschaft von mir und weiß gekleidete Soldaten und irgend etwas sagte in mir, dass diese Szene in Finnland spielte. Vielleicht habe ich auch vorher schon Fotos gesehen, aber der Krieg in Finnland begann ziemlich genau zu der Zeit als ich geboren wurde. Ich bin sehr zäh und mag diese Art von magischer Veränderung nicht besonders. Sie ist auch nicht wichtig, sollte sie wirklich eine „Erinnerung“ sein. Denn gewiss war mein späteres Leben durch diesen Krieg stark geprägt. Die Nachkriegszeit war damals in Deutschland ganz sicher eine Zeit des Wiederanfangs.  Wie selten zuvor war das Leben zum Stillstand gekommen. Die Städte zerbombt, Zig Millionen Menschen getötet, von der Geschichte genarrt, demoralisiert. Ich hatte noch Glück. Denn in Mondsee sah die Welt noch relativ ordentlich aus. Ich hatte also einen Traum der die Kriegsgeschehen in Finnland darstellte als ich geboren wurde, aber da dieser Traum sich ja viel später ereignete, könnten später gesehene Bilder sich darin vielleicht vermischt haben.


Es ist also wohl  egal, ob ich mich jetzt noch an den alten geästeten Holzbalkon unseres Hauses in Mondsee erinnere oder glaube dies irgendeine über regionale "Vision" erinnern zu können. Ja, vielleicht ist es sogar besser, keine der beiden mnestischen Rückholverfahren allzu ernst zu nehmen. Im Gegenteil, indem man zwischen diesen beiden Erinnerungs-Methoden eine Brücke schlägt und einen beide verbindenden bildhaften und plastischen Begriff dafür ein führt, findet man einen wesentlich besseren Anfang. Einen solchen Begriff könnte ich in der Schlichtheit und Wortkargheit dieses gerade oben erwähnten Wiederanfangs veranschaulichen. Mondsee war damals klein und verträumt, aber auch voll eigener Charaktere und skurriler Gestalten, die mit uns Kindern meist nicht allzu viel sprachen. Der Krieg hatte etwas leicht Bedrückendes hinterlassen. Die Rivalitäten zwischen Nazis und Nicht-Nazis waren wieder aufgeflammt, unterschwellig beargwöhnt, neu verdrängt und verschoben. Die Amerikaner hatten Mondsee besetzt, und ich vergesse nie das Bild, als eine Kompanie in rot-blauen Badehosen den langen Holzsteg im See-Bad unter Indianerrufen ins Wasser stürmten. Laue Sommerwinde und seltsame Gebahren, das warme Lächeln meiner Mutter und die Angst im Kindergarten, erste Lüste und Verbote, all dies macht meinen eigentlichen Anfang aus. Da war noch das Kindermädchen, ein Versteck in einem hohen Buchsbaum, erotisch-sadistische Phantasien, als wäre ohnehin Eigentlich müsste   alles von Anfang an schon dagewesen sein.

Dennoch, der Begriff frühester Erinnerungen ist fraglich. Eher müsste man von einer frühesten Sage, Spreche, von einem Drama, Dilemma oder sonst etwas  Geschichten-Raunendes und Schrei-Bildlichem reden. Auf jeden Fall gibt es einen Anfang. Vielleicht hatte es auch mit meiner Leistenhernienoperation im Alter von einem Jahr zu tun. Die Ärtze nahmen mir auch gleichzeitig den Blinddarm heraus, die Narkose war dadurch möglicherweise zu lang oder ungesteuert. Ich erlitt ein Durchgangssyndrom, war nicht richtig da, schlug tagelang mit dem Kopf hin- und her und die Füße an den Fersen zusammen. Die Wundnarben davon waren noch fünfzig Jahre später zu sehen. Ich habe Narkosen immer gefürchtet und vermieden, ließ mich später zweimal in Epiduralanästhesie operieren, erlitt dennoch später bei einer längeren Vollnarkose wieder ein Problem (quälendes Nicht-Wach-Werden-Können, Depression).

Aber ist damit Freuds Trauma erklärt? Seine Urszene sieht eigentlich anders aus. Eine Verführungsszene, dramatisch, erotisch-aggressiv, aus der man ausgeschlossen ist, fremd, verstoßen, wie verraten, verwirrend. Doch meine war vielleicht mehr schmerzhaft, vergewaltigend, mörderisch. Von der Mutter verlassen und wilden, rohen Ärzten ausgeliefert. Deswegen habe ich auch versucht Freud anders zu deuten. Die Behauptung, dass Freuds Lehre mit der Erkenntnis des Ödipuskomplexes und des Wesens der Träume durch seinen bekannten „Irma-Traum“ begonnen habe, stimmt nur zur Hälfte. Wie G. Huber überzeugend darstellt, begann die Erkenntnis Freuds mit der Deutung seines Kindheits-Traums von den ägyptischen Göttergestalten mit Tierköpfen und Vogelschnäbeln, die seine wie leblos scheinende Mutter zu einem Bett trugen.  Die Geierschnäbel deutet Freud als Phalli und so den Traum als seinen Inzestwunsch. Aber die Schnäbel sind auch aggressive Werkzeuge, und so könnte es sich um den Ur-Blick in eine etwas andere  Ur-Szene handeln: etwas Gewaltsasmes und nur noch am äußersten Rande Erotisches, etwas Sadistisch-Masochistisches, das es sicher auch in der Beobachtung des elterlichen Intimverkehrs gibt, eher aber vielleicht auch durch frühere und andere Erfahrungen vermittelt.

Die ägyptischen Mythen, allen voran der Osiris-Mythos, spiegeln derartige wilde, rohe und doch auch sexuelle Geschehnisse wieder. Nachem Osiris von seinem Bruder Seth zerstückelt worden war suchte und fand seine Schwester Isis von all den Stücken nur sein Geschlechtsteil, mit dem sie sich paarte und den Sohn Horus gebar. Ein happiger Mythos, in dem alles chaotisch Lustvolle und zugleich Problematische vereint ist.  Häufig gibt solch Pervers-Psychotisches die Urszene besser wieder und so auch einen Hinweis auf die präödipalen Komplexe. Sicher steckt aber auch etwas Inzestuöses in Freuds Traum, aber der Inzest war für die alten Ägypter eher etwas Heilig-Ominöses, eine Ur-Lust, die nur der Pharao genießen durfte, wobei das göttliche Geschwisterpaar Isis / Osiris als Vorbild diente.

In der altägyptischen Mythologie kommt das perverse und psychotische Element viel mehr zum Vorschein. Man kann sogar soweit gehen und somit sagen, dass das alte Ägypten die Psychoanalyse in Bildlform ist und dass Freud sie – unbewusst – vielleicht doch von daher erfahren hat. Er hat einen Urblick in die altägyptische Lust-und-Toten-Kultur getan. Das Objekt der Angst ist jener erste und allerletzte unaushaltbare sado-masochistische Blick. So findet eine Spaltung statt: was von außen nach innen kommt wird in dem, was von innen nach außen kommt gespalten oder in Form des Pervers-Psychotischen verschaltet. Wir sehen die Dinge nur noch im Rahmen dieser Spaltung, Verschaltung, die ich auch gerne „Chaosliebe“ nenne. Gordische chaotische Knotenliebe, die man nie lösen kann – oder doch: mit einem gewaltigen Aufbäumen und einem urwüchsigen, umfassenden Befreiungsschlag. Ist mir dieser später gelungen?


Von Baumhöhlenängsten und warmen Schmeichelmuttersehnsüchten, von Kleingeistern,  alten Haustüren und Chaosliebe. Ich hatte ein paar Holzspielsachen und einen Stoffbären, der aus einem Stück eines alten Vorhangs zusammengenäht und mit Sägespänen gefüllt war. Aber auch die anderen Kinder hat nichts anderes als ein oder zwei so selbstgebastelte Spielsachen. Das Leben begann, wie wenn es vorher keines gegeben hätte. Heute bin ich sehr dankbar dafür, dass mein Anfang auch der Anfang der Welt war. Denn so blieb ich immer ein bisschen der Schlichte und Wortkarge, der Naturverbundene, Verdrängende und Beargwöhnende. Der Verträumte und der Wortspielreimende. Mehr muss man nicht sein.

Ich hatte keinen Glauben an einen Gott, obwohl ich mich an eine Fronleich-namsprozessionen erinnere, die mich faszinierte. Sie fand im Hochgefühl eines Frühsommerwetters statt, Blätter frischer Birkenzweige fächelten im Wind. Ich glaubte an die Schönheit der Welt, an einen gewissen Schutz durch die mich umgebenden Menschen und an meine Fantasien. Doch, irgendeinen Gott gab es oder war es eher ein himmlisches Geistwesen. Meine Mutter verstand es uns Kindern zu Weihnachten in einen psychokathartischen Zustand zu versetzen. Am Abend vorher oder war es nach dem Tag, an dem wir unsere Wünsche an das „Christkind“ geschrieben hatten, kündigte sie an, man werde möglicherweise spät am Abend, wenn wir schon im Bett lagen, ein feines Klingeln hören – vom Christkind. Wir lagen gespannt in unseren Betten und wären bestimmt stundenlang nicht eingeschlafen, lauschend, wartend, ersehnend, aber schon bald war es zu hören: ein leises, wie von weit her tönendes zartes glöckchenartiges Klingeln, betörend einfach, entrückend, als trage es einen hinaus in diese klingelnde Nacht, in diese paradiesische Sternenferne und deren Winterhimmel.

Meine Mutter hatte es nicht leicht zu dieser Zeit. Mein Vater war in Gefangenschaft, sie musste uns allein großziehen und konnte nur durch materielle Hilfe ihrer Eltern aus Klagenfurt überleben. Aber ich will die Kinderzeit nicht verklären, will ihr nicht nachschwärmen, nachträumen, nachverändern. Man verfällt zu leicht in eine Melancholie, keine krankhafte verstärkte, aber doch in eine nostalgisch verbrämte. Die Jetztzeit ist es, die uns leben lässt. Aber es muss etwas geben, das man – gerade wenn man darüber schreibt – aus der Kindheit heraus denken sollte. Es ist, dass alles in einer vorgeformten Weise schon da war, alle Freuden und Ängste, Höhen und Tiefen. Auch der Tod war schon gegenwärtig und auch die intensivste Erotik.

Da waren diese unglaublichen Lüste auf Süßes, auf Süßigkeiten z. B. Nach dem Krieg gab es wirklich nicht viel davon, nur gelegentlich das, was man in Österreich damals (und vielleicht heute auch noch) „Zuckerln“ nannte. Ich hortete diese manchmal in einer kleinen Dose in einem Schrank, um sie dann, wenn die Lüste allzu stark wären, zur Hand, zur Mund-Hand zu haben. Seltsamerweise hortete ich sie manchmal so lange, dass meine Mutter sie entdeckte und sagte, sie seine schon ganz verdorben und so könnte ich sie nicht mehr essen. Eine Katastrophe! Ich musste sie weggeben und wieder neue sammeln. Aber ich erinnere mich, dass Sehnsüchte damals so unglaublich intensiv sein konnten. Wir hatten eben damals nichts anderes als Sehnsüchte – so kommt es mir vor. Das Gefühlsleben war einfach viel stärker. Es war weniger differenziert, nicht so vielschichtig und mit Nach- und Problemdenken verbunden wie heute. Es gab eben nur ein paar Gefühle, irgendeine Sehnsucht nach irgendeiner Erfüllung, die dunkle Ahnung eines umfassenden Glücks. Darin spielte die Mutter vielleicht gar keine solch besondere Rolle. Sie war einfach da als eine Art von Fee, von Normgarantie – ich würde nicht sagen von Sicherheit oder gar Geborgenheit. Nein, sie war Gegenstand, der den Ablauf des Alltäglichen begleitete, etwas hätte gefehlt, wenn sie nicht da wäre, aber weil sie da war, fehlte nichts. Aber wahrscheinlich war sie doch auch ein geheimes Liebesobjekt, sie hat vielleicht mit uns geschmust, aber wir – oder ich spreche nur für mich – nicht mit ihr.

Sicher habe ich später in meiner psychoanalytischen Ausbildung erfahren und gelernt, wie stark sie da war. Und noch stärker erlebte ich dies bei ihrem Tode. Ich war vereist, als ich erfuhr, dass sie doch etwas überraschend gestorben war. Es erfasste mich ein leichte4s seltsames Gefühl. Nachts träumte ich von ihr einen heftigen, sehr farbigen Traum. Sie war eine junge, schöne und sehr vitale Frau, die mich verwirrte. Irgendwo war da auch der Gedanke. „Hat mein Vater jetzt eine andere Frau oder ist dies doch meine Mutter“? In meiner Verwirrung fragte ich sie nicht „wer bist du“. Irgendwie ahnte ich, dass diese Frage mich entlarven würde, nämlich dass ich meine Mutter gar nicht richtig kannte oder gekannte habe. Ich änderte daher im Traum meine Frage dahingehend ab, dass ich sagte: „Wer bist du eigentlich“? Das konnte dann heißen, dass ich sie zwar erkannte, aber etwas über ihr tieferes Wesen wissen wollte. Ich war erstaunt, wie trickreich man selbst im Traum sein konnte. Die Scham, sie nicht wirklich gekannt zu haben und die Schuld, mit ihr kein sogenanntes „letztes Wort“ gesprochen zu haben, muss übergroß gewesen sein. Aber dass man auch im Traum so exakt raffiniert denken kann, wurde mir erst damit richtig bewusst. Wir verbiegen uns unser ganzes Leben lang.

Der Schmerz, sie schon als Kind früh verloren zu haben, wurde mir sogar noch einmal bei einer Rede, die ich zum 99. Geburtstag meines Vaters hielt, sehr bewusst. Unter „früh verloren“ meine ich Gegebenheiten, die ich nicht erinnere, aber von denen ich einerseits weiß (Krankheit meiner Mutter nach meiner Geburt, frühe Bauchoperation, bei der es mir sehr schlecht gegangen sein soll, Durchgangssyndrom nach zu langer Narkose). Andererseits erinnere ich mich eben nicht an besondere Herzlichkeit und Wärme. Dennoch versagte mir also die Stimme bei dieser Geburtstagsrede, als ich meine Mutter erwähnte. Ich hätte mir eine solche Reaktion vorher nie gedacht, sie war im Unbewussten abgespalten.

In Mondsee hatten wir eine zeitlang Anna, ein Hausmädchen, ja die haben wir geliebt und ihre Zuwendung gespürt. Die war sozusagen auf unserer Seite. Wenn ich zurückdenke, muss ich sagen, dass diese Liebe durchaus erotisch war. Es war schön sie zu sehen, herzwarm, freudig, lächelnerzeugend. Dabei war sie insgesamt nicht lange da und kam auch nicht oft. Vielleicht war es das, was das Liebensgefühl verstärkte. Und ich spürte auch, dass sie sich über uns freute. Meine Mutter konnte sich bei den vielen Sorgen, die sie hatte, sicher nicht ständig über uns freuen und dies zeigen. Aber vielleicht war es auch deswegten Erotik, weil Anna natürlich viel jünger als meine Mutter war und damit auch irgendwie unseresgleichen. Und die Mutter war ja auch die, die uns hervorgebracht hatte. Obwohl ich nie einen Gedanken an das wie und was von Zeugung und Geburt hatte, war so einen Grundahnung sicher da. Die Mutter war von einem zwar irgendwie nüchternen, uninteressanten aber doch wohl wichtigem Geheimnis umwoben. Es gab da eine enigmatische Verbinndung, die man nicht wissen musste, aber die eben da war, einfach nur da. Als Schatten, als Hintergrund im Irgendwo. Auch hat sie uns oft relativ hart gestraft, wohl weil sie unter dem Druck stand, auch den Vater spielen zu müssen und zwar ganz im Sinne meines wirklichen, leiblichen Vaters, der in seinen frühen Jahren ein recht strenger Erzieher war.

Später, als ich vielleicht sieben oder acht war, habe ich da – in dieses Geheimnis, in diese enigmatischen Dinge – tief hineingestochen. Im Garten standen aufgeschichtete Heuhaufen und ich stieß mit einer langen Stange wild da hinein begleitet von der Phantasie, das seinen „dicke, fette Weiber, die in eine große Bratpfanne geworfen werden müssen, damit sie dort lustvoll brutzelten“. Weiß der Teufel, woher diese Gedanken plötzlich kamen, aber ich schreibe sie in Anführungszeichen, weil sie genau so gedacht waren, „fett“ und „brutzelnd“, alles wie befohlen, wie hervorgestoßen. Das war nicht meine Mutter, die schlank war und da gar nicht hinpasste. Entweder war sie es als vage Erinnerung in Form der Gebärenden, Stillenden, der Fleisch- und Busenmutter oder es waren Worte, Sätze, die ich von jemanden aufgegriffen und als mir voll und passend zugehörig in die Tat umgesetzt hatte. Egal, es kommt aus Gleiche heraus. Der Anfang des Lebens besteht in der weichen Haut, in dem Geruch des Menschenfleisches, von etwas Wogendem, Wilden, Rötlichem – nein, man kann es nicht sagen und auch nicht malen. Der Anfang des Lebens besteht in einem Widerspruch von erotischen Heiligenscheinen und damit das Ganze wild in der Pfanne brutzeln lassen zu müssen. Es war war eine frühe, jungenhafte Lösung. Freud hatte recht: am Anfang ist der Mensch polymorph-pervers, oder (Ergänzt von mir) polymorph-verrückt.

Das Polymorphe, das Vielschichtige ist ja gut, ist sogar die beste Basis für das Leben. Lacan spricht vom Stadium des „zerstückelten Körpers“ durch das wir anfangs hindurch müssen. Wir erleben uns nicht gleich fertig und ganz, wir phantasieren das vielleicht manchmal, aber wirklich erfahren als perfektes Ich gelingt noch lange nicht (vielleicht lebenslang nicht?). Wir leben da ein Stück Lust und Stärke, dann wieder dort, mal mit den Armen, dann wieder mit dem Auge oder dem Herzen im Inneren. Irgendwann dann auch mal mit dem Geschlecht, aber da bin ich jetzt noch nicht. Ich schreibe jetzt noch von der – wie die Psychoanalytiker sagen – präödipalen Phase. Und da ist die Vielschichtigkeit entweder noch pervers oder verrückt. Zwanghaft eingeengt oder hysterisch ausgebeutelt. Manisch, sadomasochistisch oder angepasst ans Angepasste. Auf jeden Fall nicht reich und frei, nicht in Echt. Nicht „in Ächt“ wie wir als Kinder sagten. Das „Ä“ war deftiger, lautmalerischer und damit realer.

Gegenüber diesem verwirrenden und von seltsamen Lüsten durchfurchten Anfang waren die Bilder der weissen Soldaten in Finnland harmlos. Wahrscheinlich war das ganze nur – wie Freud es nannte – eine Deckerinnerung. Wahrscheinlich hatte ich irgendetwas gebadet in einer Weissheit gesehen, die berühmte Freudsche Urszene vielleicht in den weißen Bettlaken und nicht im finnischen Schnee. Der Schatten des Krieges liegt überall auf den Dingen. So verträumt meine Kindheit war, so war sie auch schrecklich. Es gab viele Ängste.
Schließlich mussten wir vom Mondsee ins Ruhrgebiet umziehen. Das war eine extreme Veränderung, aber seltsamerweise fiel sie uns Kindern gar nicht so schwer. Wir waren noch nicht in dem Alter gewesen, wo man romantisch an der Schönheit der Berge hängt. Die Berge waren uns eigentlich egal. Solange es etwas Interessantes zu Spielen gab, war alles in Ordnung. Die vier Jahre im Ruhrgebiet waren die Anfangsjahre im Gymnasium. Es war nicht ungut, Latein zu lernen, denn auch die Tatsache, dass man in einer anderen Sprache viele Dinge sagen konnte, war spannend. Agricola arat war einfach toll zu lernen. Dass es später doch noch ungut wurde, wussten wir anfangs nicht.


Ich mache einen großen Sprung nach vorne. Denn ich möchte mich gar nicht an allzu viel erinnern. Das Haus in Mondsee, überhaupt der See, an dem ich später an einer weiter südlichen Stelle (Au) so oft mit meiner Familie war, ja, da ist schon etwas von schöner Erinnerung, zu der ich gerne zurückgehe. Aber es ist fast mehr die Zeit mit den Kindern, als meine eigene Kinderzeit, um die es mir geht. Und dann gibt es einen Flug über die Länder der Welt. Schon in der Schulzeit habe ich Geographie geliebt, habe Landkarten gemalt, dunkles und helles Grün für die bewachsenen Landstriche, Gelb und Braun für Wüsten und Berge, blaue Flüsse und Seen. 1961 machte ich Abitur. Wir waren schon wieder sechs Jahre in München, die Stadt lag noch im Halbschlaf mit vielen zerstörten Gebäuden und vielen heimeligen Stadtvierteln, mit blühenden Bäumen, gar nichts Großstädtisches. Wieder Latein und Griechisch, gelegentliche Urlaube in Kärnten. Bis 1967 Studium der Medizin. Danach ein halber Jahr Assistent in der Pathologie in Köln. Keine leichte  Zeit, Leichen aufschneiden und detailliert sezieren. Danach ein Jahr in einem Kreiskrankenhaus am Land in der Nähe Münchens.

1969 Fahrt nach Indien, ich bin in Gedanken in Lahore, wo ich eigentlich gar nicht richtig war oder nur kurz durchgefahren bin bei diesem, meinem ersten Besuch im VW-Bus von zu Hause aus her. Aber in Lahore war Kirpal Singh zu Hause, ich sehe die malerisch verschmutzten Gassen, das indische Geschlendere, Gewurle, Getriebe mit Rikschas und Karren, Rädern und Kühen. Ich spüre den Flair dieser unendlichen und fatalistischen Gelassenheit, die nicht Liebe zur Weisheit ist, aber doch zu einer Art von Transzendenz, Nirwana.  Schicksalsliebe einfach.

Ein Mann in einem Dhoti trägt eine Tasse Tee mit ein paar Keksen über die Straße. Er ist in Ekstase! Einfach dieses Tablett tragen, den duftenden Tee, und die Luft flirrt vom Geschrei der Menschen, wirbelnder Köpfe, brauner, nackter Arme und bunter Tücher. Er  jongliert den Tee durch die Menge, die Hitze putscht den Lebens-Trieb auf, geilt ihn hoch und hämmert ihm beständig das Glück des einfachsten Geschehens ein: Hinüberzuschlendern auf die andere Straßenseite, ein paar Häuser mit Gewürzgerüchen entlang, am zerfledderten Zeitungskiosk vorbei - Papier, Fahnen, Bild-Bunt-Stapel bedruckt, frische Schwärze, die nach Klebstoff  riecht, geschnüffelt, alles eingeschnüffelt, den ganzen Tag! Der Mann geht nicht, er tänzelt! Er trägt nicht den Tee zum Kunden gegenüber, er balanziert ihn, schwingt ihn hinüber zum Friseurladen, diesen Klitter-Flitter-Schuppen mit den klappernden Scheren, wo man sich Flachsöl in die Haare massiert, einreibt, schwelgt, flirtet, quatscht. Alles ist Schwelgung, Lachen und ein paar schnell hingefetzte Worte: `Da ist der Tee, Sir!´ `Da ist der lichte Tag!´ Da, da, da ist alles. Alles ist, man muss nichts dazu tun, Kali treibt das Rad an, die Lust schmiert die Nabe. Der Tee ist die Kulmination, schwarz dampfend, voll Kraft, voll Blätterherbe und voll power. Einen kleinen Schluck schlürfen, ein winziges heißes inbrünstiges Naß. Allein vom Zuschauen, wie der andere ihn trinkt, behutsam, genießerisch, Tropfen für Tropfen verköstigend, wird auch der Mann im dhoti schon high, teebaum-high, Blatt-, Pflanzen-high! Er, im dhoti, in diesem Nichts von Tuch, dhoti-high! In diesem Nichts von Dhoti, Teee-dhot, geteeeetet.“

„Wie kann man das verstehen, dass sie glücklich, high sind - von nichts! Sie transportieren ein paar Dosen, ein paar Stoffe, ein Rad, etwas Sand - glücklich, naiv, von Belanglosigkeit gesonnt! Sie transportieren gar nicht, denn solch ein Wort kommt nur allzusehr aus unserem Geschäftsvokabular. Sie nehmen mit sich, sie schultern, sie übertragen, sie transzendieren etwas von da nach dort! Schulter-Nacken, Hals-Arm, sie bewegen es, weil alles sich bewegt und weil im Insgesamt der Bewegungen sie selbst ein wunderbares Teil dieser herrlichen, vollkommenen Bewegtheit sind. Und nicht Tragen ist die Bewegtheit, nicht Arbeit, Schufterei, sondern emotionale Fülle, seelische Bewegtheit, weil in Indien alles seelisch ist. Die Kühe, die Ameisen, das Gras aus den Mauerritzen, das Gespucke, das magere Essen, das Ständig-die-verwirrensten- Gerüche-, Düfte- und Gestänke-Einatmen, alles ist seelisch. Die Materie ist seelisch, selbst der härteste Stein. Wenn man ihn nur lange genug in den Händen wiegt, wenn man ihn nur lange genug liebt, kost, abreibt, schabt, um ihn in eine kleine Mauerspalte zu setzen, wo er hingehört - er wird seine Seele preisgeben gerade dadurch, weil er Stein zum anderen Stein ist, Mauerstein zur Mauer, so wie der Mensch Mensch ist zum anderen Menschen.

Natürlich funktioniert das bei uns heute nicht mehr. Wir wissen, dass die Beziehung des Menschen zum Menschen eine ungeheure Diffizilität ist, etwas sehr Komplexes.  Nach der Rückkehr aus Indien war ich ein Jahr in der Herz-Kreislauf-Klinik Höhenried. In dieser Zeit haben wir LSD probiert. Wir besorgten es uns in der High-Fish-Komune in der Giselastrasse. Ende des Jahres 69 meldete ich mich in der Akademie für Psychoanalyse in München zur Ausbildung an. Ich fand die Leute dort alle sehr spießig, fast zwanghaft. Aus Indien hatte ich mir die Adresse der Yoga- und Meditationsgruppe Kirpal Singhs mitgenommen. Auch dort waren die Leute sehr spießig, simpel bürgerlich. Zu meinem Erstaunen traf ich dort auch R. Langhans, den APO-Komunarden. Ich erzählte ihm von der Haig-Fish-Komune und F. Schopohl, der ebenso Mediziner war und mir die psychoanalytische Ausbildung empfohlen hatte. Langhans hatte Psychologie studiert und sich jetzt zurückgezogen.

(wird ergänzt und fortgesetzt)