Moderne wissenschaftliche Verirrungen

Der Alleswissenschaftler – so darf ich ihn einmal nennen – A. Damasio führt in seinem Buch „Selbst ist der Mensch“ von der Evolution angefangen über viele neurowissenschaftliche Forschungen ein System von Gehirn, Geist und Selbst in zahlreichen Ebenen gegliedert vor.[1] Alles hört sich wirklich interessant an und zeugt von enormer Arbeit, aber es ist total bedeutungslos und irrelevant. Das Wort Geist verwendet er völlig im Sinne einer Informationsstruktur, so dass für ihn Insekten Geist haben, wenn auch ohne Bewusstsein. Das Selbst dagegen ist eine Mischung aus Geist und Vernunft, das nur im Menschen auftaucht.

 

So kann beim Menschen dieser Geist plötzlich rebellisch werden, weil das dazukommende Selbst mit dem Geist Vernunft und Wissenschaft entwickelt und dann . . . das „biologische Wertesystem“, das generelle und besondere Überleben, noch von einer komplexeren Warte her sichern kann. Kurz: der Mensch ist eine äußerst vielschichtige Maschinerie, bei der alles innen mit allem außen wechselwirkt, um zu überleben. Es gibt also kein Subjekt, das einer symbolischen  Ordnung unterstellt wäre, jenem Spiel der Signifikanten, diesem sprachlich Anderen in uns selbst wie es in der Psychoanalyse und speziell auch in der Analytischen Psychokatharsis der Fall ist.

Dabei muss es nicht problematisch sein, wenn man den Insekten Geist zuspricht, Damasio verwendet halt eine weitgehend andere Nomenklatur. Die Sprache ist biegsam. Auch Geist ist ein unglaublich diffuser, unscharfer Signifikant, und wenn man ihm den Signifikanten Mensch gegenüberstellt, kann man die tollkühnsten Theorien aufstellen. Damasios Buch wurde übrigens auch von E. Löhr im Spektrum der Wissenschaft wegen seiner „äußerst schwammigen und unwissen­schaft­li­chen Formulierungen“ und anderer meinen Anmerkungen ähnelnden Thesen kritisiert.[2] Das Wort Wahrheit kommt in Damasios Buch beispielsweise kein einziges Mal vor. Für ihn ist die Materie, die Biologie, die neuronale Vernetzung, die Ursache von all dem, was er beschreibt, und er weiß auch warum: aus purem Überlebenswillen. Das ist die Einsicht eines großen Egos, das keinen ‚freien Willen‘ hat.

Die Einsichten aus der Analytischen Psychokatharsis dagegen lassen das Ego eher klein (und wie gesagt wunschloser) erscheinen. Das Subjekt steht hier im Vordergrund, aber nicht als Subjektives, sondern als – und jetzt komme ich wieder auf das Gedächtnis zurück – besonders erinnerungs- und lernfähiges Gedächtnis. Die Grundlage der klassischen Psychoanalyse war und ist es auch noch, Dinge aus der Erinnerung zu heben, die vergessen schienen. Traumatische Erlebnisse werden im Inneren oft so abgespalten, dass es direkt Mühe macht, sie wieder wenigstens so weit ins Gedächtnis zu rufen, dass man sie bearbeiten kann. Viele Dinge erwähnt der Patient in den Therapiesitzungen überhaupt nicht, weil er sie so bagatellisiert, verharmlost und mundtot gemacht hat, dass sie ihm nicht in den Sinn kommen, obwohl er sie noch gut in Erinnerung hätte. Explizite Anteile des Gedächtnisses (also solche, die oberflächlicher liegen und wortnäher sind) verbinden sich mit impliziten (die also tiefer vergraben liegen und mehr bildhaft sind), so dass sich eigenartige Mischungen auch in der Wiedergabe der emporgeholten Speicherinhalte ergeben. So gibt es laut Freud sogenannte Deckerinnerungen. Man erinnert etwas als glaubhaft und plausibel, in Wirklichkeit liegt und schlummert noch etwas ungern oder nur sehr schwer Erinnerbares dahinter.

Ähnlich behaupten Neuro- und Psycho-Linguistiker wie z. B. S. Pinker dass alle Teile (im Geist, im Gehirn oder in der Materie) genauso wie die eines Computers kombiniert sind. Pinker spricht von der Computertheorie des Geistes, was nicht heißen soll, „das Gehirn gleiche einem Computer . . sondern. . Gehirn und Computer haben intelligente Eigenschaften, und das teilweise aus gleichen Gründen”[3]. Wir denken in Bit und Bytes, in einer Art von Programmiersprache, Zeichen-Sprache, die Pinker „mentalesisch” nennt, und die so ähnlich funktioniert wie Algorithmen[4]. Damit könnten wir vielleicht etwas anfangen, denn Intelligenz ist doch sicher etwas, was die Theologen auch Gott zugestehen müssen, auch wenn sie wahrscheinlich darunter nicht ein allgemeines, alltägliches Denken verstehen, eine allgemeine Intelligenz. Nach der Definition der Theologen ist Gott ”spiritus purus”, reiner Geist[5], und das muss ja schließlich auch etwas im höheren Grade Intelligentes, eine - wie manche auch sagen - höhere oder auch komplexere kognitive Ebene sein. Doch der Geist-Intelligenz-Begriff bei Pinker und anderen Kognitionswissen­schaftlern ist sehr simpel gefasst.[6],[7] Für Pinker sind Überzeugungen und Wünsche Informationen, die die Gestalt von Symbolen haben, und die sind wiederum physikalische Zustände. „Symbole, die einer Überzeugung entsprechen, können neue Symbole entstehen lassen, die einer anderen, logisch mit der ersten verknüpften Überzeugung entsprechen.“ Logisch?

Die Sache ist überhaupt nicht logisch. Wir benötigen hier einen besseren Intelligenz-Begriff, denn das Wort logisch bedeutet bei Pinker nur so viel wie Repräsentationen oder Inschriften, die in der sogenannten „Denksprache”, dem Mentalesi­schen, verfasst sind, die also nichts anderes als eine Kürzelsprache ist. Was demnach fehlt, ist das Wort „logisch” in seiner eigentlichen und viel umfassenderen Bedeutung[8], so wie sie auch von der Sprachwissenschaft und der Psychoanalyse mit dem Begriff des Signifikanten treffend erneuert worden ist. Die Signifikanten sind das, was bewirkt, dass Sprache „anschaulich-logisch” funktioniert, dass sie den Worten, nein, besser den Subjekt-Zeichen gehorcht, die wir sprechen. Die Signifikanten sind die kleinen Bedeutungs- ja, Bestimmungseinheiten der menschlichen Sprache[9] und damit, wie wir gesehen haben, auch seiner Triebe. Sie sind nicht objektive Zeichen, an die man sich präzise halten könnte, sondern „Zeichen des Subjekts”, Zeichen  v o n  jemand, Subjekt-Zeichen, Zeichen-Zeichen, wenn ich dies einmal so verrückt sagen darf. Wie diese Signifikanten sich kombinieren, darin liegt das ganze Rätsel unserer Gefühle, unserer Schaltvorgänge, unseres Denkens, unseres Gottes, unseres Schauens (Wahrnehmungstriebe, Strahlt) und Sprechens (Sprechtrieb, Spricht). J. Rubner hat daher unter der Überschrift „Volksverblödung auf höherer Stufe” in einem Artikel der Süddeutschen Zeitung[10] diese Pop-Intellektuellen wie Pinker kritisiert, die mit einem ausgefeilten Begriffsinstrumentarium aus Linguistik, Neurowissenschaften, Informatik etc. phantasievolle, aber unhaltbare Thesen aufstellen, medienwirksam unter die Leute bringen, und unser Verständnis vom Fühlen und Denken, Wissenschaft und Glauben nur noch mehr verwirren.

Dabei sind Pinkers Grundthesen keineswegs falsch. Auf einer rein kombinatorischen Verarbeitungsebene arbeitet der Gehirn-Geist tatsächlich so, wie Pinker angibt. Aber seine weitreichenden Schlussfolgerungen auf das Denken als solches und auf menschliche Beziehungen etc. sind gefährlich. Ein Beispiel aus Pinkers Darstellungen: Eine Frau flüchtet vor der durch Module im Gehirn verarbeiteten Wahrnehmung „Brennendes Gebäude” mit der abstrakten Repräsentation „Fliehe vor Gefahr”, wobei alle möglichen Kürzelkombinationen der „Denksprache” dieses Gehirn-Geist-Computers beteiligt sind. Aber wie ist es dann mit der Frau, die sich ins „Brennende Gebäude” stürzt, weil sie sich umbringen will? Wie erkennt der Denksprachen-Computer, dass eine Umkehrung aller Werte stattgefunden hat, wie  Nietzsche das nannte. Dass also ”brennendes Gebäude” nicht Gefahr ist, sondern im Unbewussten entstandener Todeswunsch? Wie kann er Gefahr von der Nicht-Gefahr auseinanderhalten, wenn beide das gleiche sind, weil sie das gleiche Zeichen, den gleichen Algorithmushaben? „Gefühle sind ausgeklügelte Softwaremodule” - sagt Pinker, und warum soll das nicht oft so sein, dass wir häufig einfach wie eine blöde Maschine funktionieren und fühlen -  aber könnten sie nicht auch Folge eines unbewussten Begehrens sein, eines verdrehten Todesgedankens, einer verdrängten Liebe, oder gar nur einer Kombination von Signifikanten, also dieser kleinen Bedeutungseinheiten, die die wirklichen Bedeutungen ausmachen? Kann es nicht bei Herrn Pinker so sein, während es bei mir eben anders ist? Alle diese mentalen Systeme, die sich auf eine Natur oder ein als abgeschlossen unterstelltes, komplexes Zeichen-Schema gründen, enthalten eine Art von Debilität, von Schwachsinn[11].

Eine differenzierte Darstellung der Kognitionswissenschaft lieferten Ende des letzten Jahrhunderts F. Varela und E Thompson.[12] Ähnlich wie die Psychoanalytiker sehen sie nicht im Ich das Zentrum der Erkenntnis. Sie verwenden aber nicht den Begriff des Unbewussten und den des diesem Unbewussten unterstellten Subjekts als Zentrum, sondern den eines computerähnlichen Netzwerkes.  Die kognitive Arbeit dieser Netzwerks wird vom Ich nur begleitet, indem es die aus Evolution und Alltgshandeln fortschreitenden Inszenierungen mitgestaltet. Das Netzwerk besteht aus „sensomatorischen Teilnetzwerken“ verschiedener Menschen. Schließlich fordern die Autoren dem ‚Mittleren Weg‘ zwischen zu viel Objektivismus auf der einen und Subjektivismsu auf der anderen Seite. Wie schon der Begriff ‚Mittlerer Weg‘ jedoch andeutet, verbinden Varela und Thompson ihre Kognitionswissenschaft letztlich mit der buddhistischen Meditation als Achtsamkeits/Gewahrseins-Übung, wo zwischen der Weite der alltäglichen Welt und der weite der Freiheit kein Unterschied besteht. Beides ist langsamer kognitiver Fortschritt wie ich sie auch im Verfahren der Analytischen Psychokatharsis darstelle, in der man auch ohne zu Hilfenahme einer Religion oder einer Weltanschauung auskommt.

 



[1] Damasio, A., Selbst ist der Mensch. Körper, Geist und die Entstehung des menschlichen Bewusstseins, Siedler (2011)

[2] Löhr, E., Geist + Selbst = Bewusstsein oder so, Spektrum der Wissenschaft 3 / 12, S. 98

[3] Pinker, S., Wie das Denken im Kopf entsteht, Kindler (1998) S. 38-40

[4] Der Algorithmus ist ein  Kürzel, ein sprachlicher Ausdruck für eine mathematische Formulierung.

[5] Rahner, K., Theologisches Wörterbuch, Herder (1978) S. 164

[6] Münch, D., in  Gold, P., Engel, AKK., Der Mensch in der Perspektive der Kognitionswissenschaften, Suhrkamp (1998) S.17-48, worin der Autor die Kognition, also das intelligente Erkennen und Verarbeiten auf zwei Grundintentionen, nämlich „Wünschen” und „Meinen” zurückführt.

[7] Calvin, H., Wie das Gehirn denkt, Spectrum (1998), wo der Autor das Gehirn als Darwin-Maschine bezeichnet.

[8] Aristoteles, Rhetorica, 1404 b 2f, herausgeg. von I. Bekker, Darmstadt (1960), wo dem logoV das dhloun, das Offenbarmachen zugewiesen wird.

[9] Der Sprachwissenschaftler  De Saussure  hatte die Signifikate (die reinen Bezeichnungen) den Signifikanten (dem Bezeichnenden) gegenübergestellt. Mit dieser Definition bleibt man aber im simplen fach-linguistischen Bereich, wo es nur um den Sinn einer Aussage geht. Für die Psychoanalyse, in der sich zwei Subjekte gegenüber befinden, kann deren Aussage nur durch die Gegenüberstellung von mehreren Signifikanten dargestellt werden, weil es nicht nur um die Aussage, sondern gleichzeitig auch um das Subjekt des Aussagens selber geht. Hier haben also die Sinn-Einheiten auch schon die Funktion von Wahrheitseinheiten, ohne dass hier irgendeine absolute Wahrheit gemeint wäre. Es geht um die Wahrheit der Subjekte.

[10] Rubner, J., SZ vom 5/6.12.98 S. III

[11] Lacan, J., R.S.I, Seminar Nr. XXII, Lacan-Archiv (1998) S. 7

[12] Varela, F., Thompson, E., Der Mittlere Weg der Erkenntnis, Scherz (1992)