Ethnopsychoanalyse

Das Verfahren der Ethnopsychoanalyse geht fast um 180 Grad vom klassischen psychoanalytischen Vorgehen abweichend vor. Der herkömmliche Psychoanalytiker geht ja nicht zu seinem Patienten und will, bzw. beansprucht etwas von ihm. Umgekehrt verhält es sich bei der Ethnovariante dieser Wissenschaft. Wie der normale Ethnologe, der nach sachlichen Vorgaben hinsichtlich Feldforschung und Befragung einer Ethnie vorgeht, begibt sich auch der Ethnopsychoanalytiker zu seinem Klienten in den Regenwald Papua-Neuguineas oder in die Savanne Afrikas zum Beispiel. Dort betritt er wirklich Neuland,

und solch ein Schritt kann zu einer gemeinsamen Revolte zweier fremder Selbste führen, die die Verwicklung und tiefe Einsicht in die so divergierenden Ethnien beinhaltet.

Der Ethnopsychoanalytiker geht also selber zu seinem Kunden und will und beansprucht auch etwas von ihm. Er wird also nicht von einer Krankenkasse Geld dafür bekommen, sondern muss – das hat sich bei allen derartigen Feldversuchen bisher herausgestellt – selber etwas geben oder zahlen. Er macht auch dem dort lebenden indigenen Gesprächspartner klar, was er will und was in etwa sein Hintergrund ist (wissenschaftlich geleitetes Gespräch etc.). Der betreffende Mann vom Stamm der Iatmul oder die entsprechende Frau der Himbas (darum wird es gehen) sind auch nicht krank und benötigen psychotherapeutische Hilfe. Es geht dem Ethnopsychoanalytiker nur um eine Gesprächs-technik, mit der er erreichen will, von dem Unbewussten seiner Partner herauszuhören, wo ihre Komplexe liegen und ob sie denen ähnlich sind, die wir haben, um darauf gegründet dann Freuds Wissenschaft weiter auszubauen.

Obwohl dies alles also so ziemlich ‚anders herum‘ zum herkömmlichen psychoanalytischen Vorgehen verläuft, kann man der Sache trotzdem oder gerade deswegen etwas abgewinnen. Schließlich hat ja auch Freud schon bei den alten Griechen herumspioniert und in den Ödipuserzählungen bei Sophokles zwar nicht die gleichen Komplexe, aber doch die gleichen Strukturen gefunden, die im menschlichen Unbewussten herumgeistern. Einer der ersten Ethnopsychoanalytiker war G. Roheim, der bei den Trobriandern in der Südsee forschte. Er brachte in Erfahrung wie die Menschen dort die Welt als „Ganzheit” noch unter der Ägide einer universalen ‚Mutter Natur‘ sehen.[1] Damit konstatierte er, dass die Trobriander keinen Ödipuskomplex hätten, bei dem die Liebe und das Begehren zum gegengeschlechtlichen und die Rivalität zum gleichgeschlechtlichen Elternteil im Vordergrund steht. Vielmehr steckten diese Südseeinsulaner  noch in den „präödipalen Strukturen“, bei denen eben die Mutter und die Natur komplex verwobene Kräfte repräsentieren, die Heil und Unheil gleichzeitig verkörpern können. So sind sie – vereinfacht gesagt – zwar glücklicher (weil ursprünglicher) als wir, dafür aber ständig von Hexerei und anderen wahnhaften Ideen gestört.

Der Psychoanalytiker F. Morgenthaler hat in den 60er Jahren des letzten Jahrhunderts die Ethnopsychoanalyse weiter ausgebaut. Er reiste zu der ethnischen Gruppierung der Iatmul in Papua-Neuguina, wo er mit der Methode  lockere Gespräche zu führen mehr und mehr in tiefen Kontakt zu Kwandemi, einem der Eingeborenen, kommen konnte. Die Beziehung erstreckte sich über alle Alltagstätigkeiten und in die Unterhaltungen bezog Morgenthaler immer wieder  behutsam auch psychoanalytisches Gedankengut mit ein. Selbstverständlich war dies eine ganz andere Art des Vorgehens als es in einer üblichen Psychoanalyse der Fall ist, denn Morgenthaler versorgte Kwandemi auch stets mit Geld und Zigaretten. So kommt eine gute Freundschaft zwischen den beiden zustande, doch mit den psychoanalytischen Deutungen klappt es nur recht begrenzt.

Auf die Frage des Analytikers, ob es auch vorkommt, dass ein Bruder mal mit seiner Schwester schläft, antwortet der Eingeborene erstaunt: „Ja willst du denn keinen Schwager!“ Er hat die Frage einfach nicht ganz zugelassen, denn ganz gewiss sind solche Themen – auch wenn sie vorkommen – in seiner Ethnie extrem tabu. Aber auch der Analytiker hat die Frage falsch gestellt, nämlich zu direkt und zu konstruiert. Und so versucht Morgenthaler auch des Öfteren Kwandemi mit homoerotischen Neigungen zu konfrontieren, denn die Psychoanalyse geht davon aus, dass jeder heterosexuell orientierte Mensch auch latent eine homoerotische Neigung besitzt. Schließlich wurde die Freundschaft der beiden immer enger und Kwandemi umging Anspielungen an unbewusste Intimität meist mit einem Themawechsel oder dem Hinweis, dass es schon vorkommt, dass Männer „im Versteckten etwas miteinander tun“.

Was das ist, wird aber nie definitiv artikuliert. Einmal zeigt Kwandemi seinem Ethnopsychoanalytiker auch seinen erigierten Penis, weil er sagt, er habe dort Schmerzen. Es findet sich aber nichts und man hat den Eindruck, dass der bedauernswerte Eingeborene dem so sehr an ihm wissenschaftlich interessierten Analytiker seinen Penis nur gezeigt hat, weil dieser immer wieder das Sexuelle – wenn auch im weitesten Sinn – zur Sprache bringt. Kwandemi will sich doch für Geld, Zigaretten und Freundschaft erkenntlich zeigen, kann aber letztlich dem Analytiker nichts Entscheidendes bieten. Obwohl die Geschichte schön geschrieben ist und die Gespräche tiefgehend klingen, kommt nicht das heraus, was eine kleine ‚Revolte der Selbste‘ hätte sein können: ein Erkenntnissprung der primär-menschlichen Beziehungen.

Denn Eingeborener und Fremder, Schwarzer und Weißer, Reicher und Armer, naturverbundener Iatmul und zivilatorisch erstarrter Europäer könnten aus einer so körpernahen, worttiefen und frühbeziehungsimpliziten Verbindung eine Revolte der menschlichen Grundbeziehungen losgetreten haben, die sich andere in Ost und West gleichermaßen zu eigen hätten machen können, indem sie genau diese Revolte in ihrem ‚Selbst‘ wiederholen. Es kommt aber nicht dazu, denn der Analytiker reist ab und lässt den traurigen Freund zurück, der von ihm in eine gewisse Anhängigkeit geraten ist. So kann Kwandemi seinen ethnischen Genossen nichts vom Ethnopsychoanalytischen beibringen und auch Morgenthalers Veröffentlichungen haben nicht die Durchschlagskraft gehabt, dass man bei uns aus den Deutungen in Papua-Neuguinea viel gelernt hätte. Die in den Gesprächen immer wieder ungelöst gebliebenen Hexen- und Monstervorstellungen (meist auf eine Mutter-Frauen-Figur bezogen) des Kindes- und auch Erwachsenenlebens dieser Menschen, in denen zwar auch erotische Elemente des Gleich- und Gegengeschlechtlichen eine Rolle spielen, erwiesen sich als erheblich komplexer und vielschichtiger, als zu vermuten war. Weiterhin bleiben der Psychoanalytiker und der Ureinwohner in seiner Ethnie und in sich selbst gefangen.

Ähnlich, wenn auch wieder mit anderen Vorzeichen, verläuft die Ethnopsychoanalyse von A. Köhler-Weisker bei dem Himbas im heutigen Namibia.[2] Uatikura heißt die junge Himbafrau, mit der die Psychoanalytikerin und Kinderärztin über einige Wochen hinweg und dann auch noch bei zwei weiteren Besuchen die tiefenpsychologisch orientierten Gespräche führt. Auch sie stößt auf die Homoerotik in Form der Gegenübertragung, indem sie selbst Gefühle für den anmutigen Körper und die naturverbundenen Bewegungen und Emotionen der Himbafrau entwickelt. Was bei Morgenthaler die homophile Verbalerotik war, wird bei Köhler-Weisker zur latenten bis halb-manifesten Homophilie. Sie wird in beiden ethnopsychoanalytischen Fällen nicht ausgelebt, ist aber ganz deutlich im Spiel. Sie stellt das Selbstelement dar, das den Einstieg in die Ethnopsychoanalyse affektiv und auch deutungsmäßig ermöglicht.

Auch Weisker-Köhler stellt manchmal die falschen Fragen, wenn sie die Uatikura auf ganz individuelle Gefühle anspricht. Ähnlich wie bei den Iatmul sind solche Emotionen nämlich tabu oder werden nur sehr beschämend erfahren, so dass man darüber nicht reden will und kann. Dennoch diskutiert die Autorin den Aspekt einer ‚Zwischenleiblichkeit‘, die eben über die übliche rein soziale Intersubjektivität hinausgehen soll und die man transkulturell entwickeln müsste, um – in meiner Sprache – die Selbste auf Revoltkurs zu bringen. Auch die Realität der Trennung, die bei Morgenthaler problematisch war, glaubt die Autorin durch den ‚gegenseitigen Verinnerlichungsprozess‘, in dem die westliche Frau von den körpernahen und wenig ausgeprägten Abgrenzungen der Himbas untereinander ihre latente Homoerotik und eine fast familiäre Verbindung  erfahren konnte, überbrücken zu können.

Sie kann die verdrängte ‚Trennungswut‘ der Himbafrauen herausarbeiten, die über ein Verlassenwerden von Eltern und Lebenspartner nur schwach betrauern und ihre Empörung und den Zorn darüber nicht herausschreien dürfen. So etwas kann auch bei uns hilfreich sein, denn auch in unserer Gesellschaft wird dem Einzelnen nicht immer bewusst, wie oft er eigentlich über Trennungen wütend ist. Uatikura wurde  mit gewissen Einsichten in ihr psychosoziales Leben beschenkt und ihr ebenso mit Sachzuwendungen und Geld in ihrer Not geholfen. Auf ihre kleine Gemeinschaft in dem halbnomadischen Camp konnte sich dies aber nicht weiter auswirken.

Und die psychoanalytische Community wurde durch die Veröffentlichungen der Ethnopsychoanalytiker bereichert, denn das Buch der Ethnopsychoanalytikerin ist interessant und lebendig zu lesen. Ich frage mich jetzt nach meinem Standpunkt, der an dieser Bereicherung kurz hat teilnehmen können. Für meine Intention, die sich darauf richtet, ob und wie sich die gefundene ‚Zwischenleiblichkeit‘ vielleicht im Sinne der Geißler’schen ‚körperbezogenen Intersubjektivität‘ zu einer festen, vermittelbaren Praxis des darin enthaltenen ‚impliziten Beziehungs- und Bewegungswissens‘ und wortbezogener ‚jouissance‘ verdichten könnte, lässt sich nämlich nicht viel herausholen. Doch exakt darauf wäre es angekommen. Wir, die wir heute mit unserer Fremdenfeindlichkeit kämpfen sollten, könnten eine Methode in der Hand haben, mit der sich dieser Kampf glänzend gewinnen ließe: durch eine ‚Revolte des Selbst‘ und der Selbste par exellence.

Um dies begreifbarer zu machen kann man sich auch mit anderen aus der Psychoanalyse hergeleiteten Methoden beschäftigen. Ich greife das psychotherapeutische Vorgehen von Alice Miller heraus, die sich vollkommen von der Psychoanalyse abwandte, aus deren Gremien ausschied und sich ‚Kindheitsforscherin‘ nannte. Sie lehnte die Freud’sche Triebtheorie völlig ab, weil sie davon ausging, dass das Kind mit einer positiven Selbstakzeptanz zur Welt kommt bzw. diese aus gesunden narzisstischen Strebungen heraus entwickelt.[3] Dass es zu Problemen und Krankheitssymptomen kommt sieht sie ausschließlich darin begründet, dass eine negative – und wie sie auch sagte „schwarze“ – Pädagogik sowie psychophysischer Missbrauch durch die Angehörigen das Kind schwer traumatisiere.

In der Folge ihrer Therapien und derer ihrer Mitarbeiter wandten sich die Patienten meist mit Vorwürfen gegen ihre Eltern oder brachen die Beziehungen zu ihnen ganz ab. Trotzdem kann man die Verfahrensweise von A. Miller nicht vollkommen verurteilen. Sie hat ja Recht, die Eltern und nahen Angehörigen sind immer in die seelische Reifung ihrer Kinder verwickelt, doch man muss hier ganz klar eine kausale von einer moralischen Schuld unterscheiden. Auch die Eltern der Eltern haben schon Fehler gemacht, obwohl sie sich bemühten für ihre Kinder das ihrer Meinung nach Beste zu machen. Ja seit Jahrtausenden ist dies so und werden Ungeschick und Fehler meist unbewusst und vielfach generationsübergreifend weitergegeben.

Eben, in diesem Unbewussten liegt die Schuld, die Entwicklung des menschlichen Kindes ist zu komplex und reifen in jedem Kind Triebkräfte und deren psychische ‚Objekte‘ heran, die dem Kind enorme Schwierigkeiten machen können. Die Mitwirkung der Eltern wird sichtbar und nach A. Miller als Hauptquelle herausgestellt. Damit gelingt keine echte Revolte, obwohl A. Miller mit ihrem Selbstbegriff auch auf Kohut und dessen Narzissmuskonzept, also auf das Strahlt gesunder Eigenliebe zurückgreift. Aber sie vergisst das Spricht, das insbesondere von Lacan in den Vordergrund gestellt wurde, wie ich im nächsten Kapitel zeigen will.     

Ethnopsychoanalytische Untersuchungen werden trotz ihres großen Aufwands und ihrer profunden theoretischen Ausarbeitung immer ein wertvoller Ableger der üblichen Psychoanalyse sein, sowie auch A. Millers Kindheitsforschungen interessant und wichtig sind. Aber eine Anleitung zur ‚Revolte des eigenen Selbst‘ werden alle diese Wege – und auch noch etliche andere Wege in Psychotherapie und Psychoanalyse – im Wesentlichen nicht beitragen können. Jeder muss zuerst die ‚Ethnie‘ seines eigenen Unbewussten erforschen und das Ergebnis dann in die Revolte einbringen, indem er – wie es Köhler-Weisker oder wie ich es hier vielleicht ebenso handhabe – darüber schreibt. Jeder muss unterscheiden lernen wo rein ursächliche und wo auch bewusst verschuldete, moralische Schuld vorliegt. Zudem muss die ‚Revolte des Selbst’ nicht nur in eine Selbstverbesserung ausgehen. Sie kann auch darüber hinaus in eine Wissenschafts-Diskussion oder in schriftliche Veröffentlichung und therapeutische Weitergabe münden, die einen neuen Weg zur Selbst-Analyse aufzeigt.

 



[1] Roheim, G., Die Panik der Götter, Kindler (1975) S. 21

[2] Köhler-Weisker, A., Gespräche unter dem Mopanebaum, Ethnopsychoanalytische Begegnungen mit den Himbanomaden, psycho-sozial-Verlag (2015)

[3]  Miller, A., Das Drama des begabten Kindes und die Suche nach dem wahren Selbst, Suhrkamp (2012)