Das Leben im Sterben

Seit jeher existiert ein Streit darüber, ob es ein Leben nach dem Tod gibt oder eher nicht. Doch neuere neurowissenschaftliche Untersuchungen könnten diesen Streit in einer Weise lösen, die beiden Auffassungen ein bisschen gerecht wird und eine neue, reale und gesicherte Version anbietet.  Ich spreche diesbezüglich von einem Leben i m Sterben oder gar vom Leben i m Tod, also von einem Zustand, der von außen betrachtet als Lebensende gesehen wird und mit Elektroencephalographie, funktioneller Magnetresonanztechnik und anderer wissenschaftlicher Methoden präzise festgestellt werden kann, aber von innen her ganz anders aussieht.

Das behaupten nicht nur viele Mystiker oder Mythenerzähler, ich will auch Neurowissenschaftler zitieren und psychoanalytische Argumente anführen, wie im Übergang vom Leben zu einem allerletztlichen Tod noch andere, derart regressive Vorgänge Bedeutung im Sterbevorgang haben. Denn so gesagt lässt sich das Sterben nicht nur erlernen, wie man oft von Esoterikern hören kann, sondern schon lange vorher seine psychische Struktur erfahren.

In der Karwoche 2019 veröffentliche der Neurowissenschaftler Nedan Sestan in der renommierten Fachzeitschrift Nature einen Artikel, worin er beschrieb, wie Gehirnzellen bei Tieren Stunden nach deren Tod und damit ohne Sauerstoff noch neurologische Lebenszeichen von sich gaben. Die Forscher stellten klar, dass das Gehirn nicht mehr durchblutet war, sondern das Gefäßsystem nur mit einer inerten, also reaktionslosen, still stehenden Flüssigkeit gefüllt war. „Die Forscher konnten an Gewebeproben des Gehirns zeigen, dass dessen Neuronen nach entsprechender Stimulation elektrische Signale austauschten. Der Sterben der Gehirnzellen nach Sauerstoffmangel sei offenbar ein schrittweise Prozess“.  Es ist also nicht nur ein Gehirnstoffwechsel vorhanden, sondern es existiert ein Informationsaustausch im neuronalen Netzwerk des Gehirns.  Dies hat freilich nichts mehr mit dem Lebensbegriff zu tun, wie wir ihn üblicherweise für unser Dasein verwenden. Aber irgendetwas ist noch da und verdient durchaus den Begiff Leben, wenn auch in ganz anderer Art.

Dies lässt sich schon allein daran sehen, wie und was in der Diskussion über diese neurowissenschaftliche Studie von N. Sestan in Nature weiterhin ausgesagt wurde. Zum einen, dass diese Neuronensignale bis zu sechs Stunden nach dem Tod des Tieres und damit ohne Sauerstoffversorgung nachgewiesen werden konnten. Zum anderen wurde argumentiert, dass in dieser Zeit nach dem Tod trotz der andauernden Reaktionszeichen mit keiner Art von Reanimation wieder wirkliches Leben, also Gehirntätigkeit mit „höheren Funktionen“ zu erwarten sei. Das Leben sei damit so oder so beendet und damit sei die Studie nicht sehr interessant, behauptet einder der Studienkommentatoren. Aber was heißt hier wirklich beendet und was heißt zudem „höhere Hirnfunktionen“?

Wie an den Begriffen Regression, seelisch Rückkehr, Involution zu frühkindlichen Erfahrungsstadien erwähnt, sind solche Zustände in Psychologie und Neurologie und speziell in der Psychoanalyse ja als für gewisse Erholungs- und Wiederherstellungsvorgänge bekannt, notwendig und viel wichtiger, als die voll bewusste geistige Verfassung. Man spricht dann zwar nicht von ‚tieferen Hirnfunktionen‘, sondern von elementareren, ursprünglicheren Hirnfunktionen oder – wie Freud es tat – vom „Urverdrängtem“, also einem Zustand psychoanalytischer Notwendigkeit, mit der dann die weniger verdrängten Bereiche erklärt werden können. Gerade diese elementareren Zustände sind für das Leben im ursprünglichen Sinne, im Unbewussten und neurologisch zentraleren Hirnregionen bedeutsam und wichtig. Vor allem der Neurologe A. R. Lurija hat einen Zusammenhang von Gehirn und Unbewussten schon vor Jahrzehnten begründet, der das Freud’sche ‚Es‘, also das Reservoir der Triebkräfte mit Mittel- und Zwischenhirnregionen in Beziehung setzte. Es geht also nicht um das Großhirn und seine sogenannt „höheren Hirnfunktionen“, die wesentlich für die Basis des Seelischen sind, sondern eben um die elementareren Ebenen und  Funktionen.

Das Ich, Ichideal und Überich, das planende und alles überdenkende Frontalgehirn, genauso wie die isolierte Wort- und Bild-Verarbeitung (im Temporal- und im Hinterlappen) stören das Grundseelische nur, das im Traum, aber auch in Meditation, bei bestimmten religiösen Erfahrungen, in der Psychoanalyse und vor allem auch im Sterbevorgang zum Zug kommt. Ganz besonders aber ist dieser Aspekt wichtig, wenn es um das Leben i m Sterben geht, dass ich wie erwähnt am liebten sogar als das Leben  i m  Tod (im Gegensatz zu einem n a c h dem Tod) bezeichnen würde. Für eine mögliche Reanimation und Rückkehr zu sogenannten „höheren Hirnfunktionen“ (mit denen ja zudem oft die schrecklichsten Dinge getan werden) spielt diese Art des Lebens demnach natürlich keine Rolle mehr. Dies ist auch nicht notwendig, ja vielleicht sogar Voraussetzung dafür, das dieses Leben ganz anderer Art noch stattfindet.

Für das Leben in der von der Psychoanalyse her erfassten Regression ist diese noch stundenlang andauernde Phase neuropsychischer Vorgänge, wie Sestan sie erforscht hat umso wichtiger. Im Volksmund hat es immer schon geheißen, dass in den letzten Momenten des Weggehens, Wegdriftens, das ganze Leben nochmals wie in einem Film vor einem abläuft, doch ich glaube nicht, dass es sich so verhält und es auch nichts bringt, denn es vermittelt ja keine Lösung. Eher erscheint glaubhaft, was mir oft Angehörige meiner Patienten berichteten, dass sich die Gesichtszüge des Verstorbenen noch lange nach dem sogenannten Todeszeitpunkt verändert hätten. Sie hätten meisten entspanntere oder anderes charakteristische Formen angenommen.  

Zwischen dem Leben mit „höheren Hirnfunktionen“ und dem endgültigen Tod besteht also offensichtlich ein vielleicht ganz ausgedehntes Zwischenreich. So könnte man auch sagen, dass man das Leben überlisten muss, selbst im Tod (oder zumindest im Sterben) noch etwas zu überdauern. Denn was wir brauchen ist ein Subjekt ‚ohne Kopf‘, wie Lacan sagt, also ohne Kopflastigkeit wie es die höheren Hirnleistungen” darstellen.  Das unbewusste Wahrheitswissen drängt nach außen, aber direkt (vom Irrationalen zum Rationalen wie in der psychoanalytischen Sitzung) kann das Unbewusste solch eine Bewusstwerdung im Sterbezustand nicht mehr leisten. Dafür aber findet die Seele in diesem .Zustand die perfekte Verschränkung von innen und außen, d. h. sie nimmt diesen Unterschied nicht mehr für wichtig und kreiert noch die wesentlichsten Kombinationen dieser beiden Grundelemente des Seelischen, die ich das Bild- und das Wort-Wirkende nenne (Lacan spricht vom imaginären und symbolischen Signifikanten)..

Dies ist auch der Grund, warum ich von den Schritten gesprochen habe, mit denen man das Sterben schon vor dem allerletzten Tod erlernen kann, also bereits ähnliche Erfahrungen mit Regression, seelischer Zurückziehung und Verarbeitung primärer psychischer Strukturen gemacht hat. Denn es ist wohl möglich durch ein intensives meditatives, psychoanalytisches, ein irgendwie erneuertes selbstsublimierendes Training oder sonst etwas Ähnliches, ein Sterben im Leben zu fingieren, nachzuahmen oder nachzubilden, also so authentisch wie möglich zu konstruieren, um davon für das eigentliche Leben zu profitieren. Denn nur so macht es einen Sinn, die Frage nach dem Leben  i m  Tod, wie sie unter anderem von dem Artikel in der Zeitschrift Nature aufgegriffen wurde, neu zu beantworten. Verständlich wird alles auch durch die von der Psychoanalyse erarbeitetellFormlldes Verschmelzungs-Phantasmas oder anderer frühester seelischer Phantasmen, wie sie um die Geburt herum und danach vom Kind gebildet werden und sich weit ins Erwachsenendasein auswirken.

Dieses kann aber auch Bezug haben zum Netzwerk des Unbewussten, das ja ein Netzwerk aus Wort-Bild-Wirkenden ist oder eines aus Bestandteilen der Topologie.  Lacan hat viele psychisch-unbewussten Strukturen mit topologischen Figuren erklärt, da diese Bild-Wort-Wirkenden seelische Aspekte wie zum Beispiel Anspruch und Begehren als die zwei Seiten einer einzigen Fläche darstellen (siehe Abb. oben, wo verschiedene Topologien gezeigt sind). Und tatsächlich hat ja auch der deutsche Nobelpreisträger K. von Klitzing selbst in physikalischen festen Körpern derartige Strukturen nachweisen können (sogenannter Quanten-Hall Effekt), was an die von der Philosophin und Physikerin K. Barad beschriebenen Verschränkungsrealitäten erinnert, die sich gut in solchen topologischen Strukturen kombiniert finden, egal wie und was in den verschiedenen Wissenschaften dazu gefunden und gesagt worden ist. All dies dient nur einer allgemeinen Anschaulichkeit.

Eher hilft ein Blick in Die Verschmelzungs-Sehnsucht bzw. das entsprechende Phantasma, das wohl mit der Trennung von der Mutter und mehr noch, von einem Teil des eigenen Körpers, nämlich der Plazenta, zu tun hat, wird im üblichen Leben nie befriedigt oder zu Genüge erreicht. In der Phase die-ses Lebens i m Sterben wird sie aber offensichtlich möglich, rudimentär erfahrbar oder regressiv abgeschlossen. All dies erklärt auch, warum im religiösen Bereich und auch anderswo von einem Leben n a c h dem Tod gesprochen wird. Man kann sich nicht vorstellen, dass das Leben ohne einen sinnvollen und erlösenden Vorgang beendet werden soll. Und so liegt also sowohl von der Psychoanalyse her wie auch vom religiösen, spirituellen Verständnis aus gesehen eine plausible Lösung des Problems vor, wenn man sich auf diese spezielle Phase des Daseins konzentriert.